- 3 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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An die Vorgaben Ratz’ und Redlichs knüpfte Theodor W. Adorno in seinem Mahler-Buch von 1960 an, in dem er die kompositorischen Vorgehensweisen Mahlers vielfach politisch deutete. Zur Sechsten Symphonie heißt es etwa:

»Identifiziert Mahlers Musik sich mit der Masse, so fürchtet sie diese zugleich. Die Extreme ihres kollektiven Zuges, etwa im ersten Satz der Sechsten Symphonie, sind jene Augenblicke, wo der blinde und gewalttätige Marsch der vielen dazwischen fährt: Augenblicke des Zertrampelns. Daß der Jude Mahler den Faschismus um Dezennien vorauswitterte wie Kafka im Stück über die Synagoge [...]«10

10
Theodor W. Adorno, Mahler, eine musikalische Physiognomik. Frankfurt/M. 1960 [= Adorno, Mahler], S. 51, der Fortgang des Zitates ist nicht weiter relevant.

Adorno spricht hier zwar nur die Vorausahnung des Faschismus an, aber mit dem Begriff des gewalttätigen Marsches kann auch Kriegerisches gemeint sein, wie an anderen Stellen seines Buches. Mit dem Stück über die Synagoge dürfte Kafkas Prosastück Das Tier in der Synagoge gemeint sein, in dem es heißt: »Und doch diese Angst. Ist es die Erinnerung an längst vergangene oder die Vorahnung künftiger Zeiten? Weiß dieses alte Tier vielleicht mehr, als die drei Generationen, die jeweils in der Synagoge versammelt sind?«11

11
Zit. nach Franz Kafka, Poseidon und andere Kurzprosa, ausgewählt und mit einem Nachwort von Jürgen Born, Frankfurt 1994, S. 70.
Gegenüber Redlich und Ratz bezieht Adorno die Wunderhorn-Lieder stärker in seine Interpretation ein. Nicht indem er sie analysierte, aber dahingehend, daß er die darin angesprochenen Figuren und Themen als Protagonisten seiner gesamten Mahler-Interpretation einsetzt. Die diesbezüglich zentrale Passage in seinem Mahler-Buch lautet:

»Wahlverwandt war Mahler seinen Texten [denen des Wunderhorn] weniger in der Illusion des Heimeligen als im Vorgefühl unverändert-wilder Zeitläufte, das ihn in geordnet spätbürgerlichen Verhältnissen überfiel, vielleicht motiviert von der Not seiner eigenen Jugend. Seinem Mißtrauen gegen den Frieden der imperialistischen Ära ist Krieg der Normalzustand, die Menschen sind wider ihren Willen gepreßte Soldaten. [...]
Die aus der Reihe Gefallenen, Niedergetretenen allein, die verlorene Feldwacht, der bei den schönen Trompeten Begrabene, der arme Tambourg’sell, die ganz Unfreien verkörpern für Mahler die Freiheit. Ohne Verheißung sind seine Symphonien Balladen des Unterliegens, denn ›Nacht ist jetzt schon bald‹.«12

12
Adorno, Mahler, S. 67 und 216.

Mit dieser letzten Passage, die Redlich ergreifend nannte13

13
Hans Ferdinand Redlich, Rezension zu: Adorno, Mahler, in: Mf 19 (1966), S. 224.
, endet Adornos Buch. Die hier genannten Figuren stammen aus den fünf zentralen Soldatenliedern Mahlers nach Wunderhorn-Texten: Revelge, Der Schildwache Nachtlied, Wo die schönen Trompeten blasen, der Tamboursg’sell, Lied des Verfolgten im Turm. Indem Adorno sie hier zu Symbolen für die gesamte Mahlersche Musik stilisiert, kommt auch den Wunderhorn-Liedern selbst eine große Bedeutung zu, und zwar vor allem hinsichtlich der Frage, warum Mahler sich gerade die Texte zur Vertonung ausgesucht hat, in denen solche Figuren und Themen verarbeitet werden. In der angehängten

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