- 351 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Tonart (a moll), tosende Schicksalsgewalten und zermalmende Schläge des symbolhaften Hammers nach dem Aufstieg in Gipfeleinsamkeit (Herdenglocken). Es ist eine »Bergsinfonie im Gesamtwerk des Künstlers, der, ein echter prometheischer Romantiker, den Himmel stürmen wollte und dann in Stille und Resignation die Abkehr von dem Weltgetümmel vollzog in dem traumhaft verklärten »Lied von der Erde«. [. . . ] Nur das spezifisch Mahlerische: die glühende Leidenschaft des Ringenden, die gramvolle Tragik des Einsamen, die zuckende Sensibilität des erinnerungstief Gepeinigten – man durfte es in dieser von Dämonie wenig beschwerten Ausführung nicht suchen.« [F26/B]
Der Komponist nahm sich und seine Stimmungen außerordentlich ernst. Er selbst war eine tragische Natur, ihn beseelte das ungeheuerlichste Wollen und die Erkenntnis der seiner Begabung gesetzten Grenzen machte ihn schwermütig. Im Lied von der Erde leugnet er den Wert alles Bemühens, hier in dieser »tragischen« Sinfonie aber erregt er sich gewaltig über die Düsternis der Tatsache, daß alles Gewordene vergehen muß und die beteiligte Kreatur nicht erst gefragt wird, ob sie sich dem gelassen oder in Schmerzgefühlen beugen will. Aber beides läuft auf das gleiche hinaus, da das Schicksal unentrinnbar ist, wichtig ist nur, es den Zuhörern im Konzertsaal mit einem außerordentlichen Aufwand an Mitteln und in einem Schlußsatz von stark halbstündiger Dauer so ans Herz zu legen als handele es sich um eine ganz neue Lehre, jedenfalls um eine ganz neue Formulierung ihrer künstlerischen Bedeutung aus dem seelischen Erlebnis eines von ihrer dämonischen Gewalt ganz besonders geschüttelten Uebermenschen. [. . . ] die phantastisch überhitzte Musik [. . . ] So blieb die Wirkung denn auch hübsch bei menschlichen Maßen, ohne ins Kosmische zu wachsen, wie das die bedingungslosen Bewunderer solch ernst gemeinter, aber doch auch spekulativ und ungesund hinaufgeschraubter Gefühlsekstasen so gerne nennen. [F26/C]

die »tragische« Sechste [. . . ] Der tragische Riß in der Persönlichkeit Mahlers, die Sehnsucht nach dem Höchsten und daneben die Erkenntnis, daß auch ein titanisches Wollen nicht reicht, was dem Genie mühelos in den Schoß fällt, geht insbesondere durch diese sechste seiner Symphonien. [A26/A]

Wer die Echtheit und die ethische Stärke des Schöpfers, wer die Ekstatik der musikalischen Visionen wirklich innerlich erlebt und geschaut hat, dem werden die ergreifenden Tongebilde einen Blick in jene metaphysischen Sphären gewähren, die hinter dem übermäßigen technischen Apparat sich auftun. Aus den dämonischen Abgründen des Unbewußten steigt das schluchzende, schwirrende und stöhnende Orchester herauf, jenes verhaltene Lied der Sehnsucht zu singen; dies im tiefsten Sinne dominierende Grundgefühl der Romantik durchzieht Mahlers gesamtes Lebenswerk. Sein Humor ist in einem komischen Gefühl verwurzelt und trägt alles Leid der geängstigten Kreatur in sich. Der tiefe Sinn für das Uebersinnliche wird nie ganz zu fassen sein. Immer mit sich ringend, schreibt Mahler eine ergreifend hintergründige Musik, die inbrünstig nach neuem Ausdruck drängt, ihn aber deshalb nur halb erreicht, weil sie den letzten Schritt nicht wagt. Der tiefste Grund für die innere Zwiespältigkeit liegt in der ständig sich steigernden Ekstase, die ein unheimliches Erzittern vor den seelischen Spannungen heraufbeschwört. Es ist ein besseres Musizieren, das der Feder des mit raffiniertem technischen Wissen ausgestatteten Komponisten zu verdanken ist. Seine Sechste [. . . ] weist sämtliche gekennzeichneten Grundzüge auf. [. . . ] Das stark kämpferisch durchsetzte, titanenhafte Werk [. . . ] Die hart nebeneinanderstehenden Stellen von visionärer Ekstatik, oratorischem Pathos und sentimental-lyrischem Monolog gewannen eine lebendige Gestaltung. [A26/B]

Die »Sechste« trägt ein Zeichen auf der Stirn, daß in den Augen der Menge leicht zu Kainszeichen [sic] wird: das Zeichen orgiastischer Grandiosität. Wie wenige gibt es, die dieses Menetekel deuten ja nur ahnen können. Was tun die hunderte im Konzertsaal angesichts dieser Dämonie? Muß nicht die Teilnahmslosigkeit der Massen die Begleiterin der »Sechsten« sein? Den beiden ersten Sätzen folgen sie noch, die Marionettenbilder des Scherzo sind ihnen noch faßlich, aber wenn der Riese kommt, der sie zertrampelt, oder wenn das Finale, diese apokalyptische Sinfonie für sich, zum Klang wird zerreißt der Kontakt mit dem Menschsein. [K27/A]

Im Schicksalsgedanken, zwischen Mensch und Musik die Antenne feinster Aetherwellenbewegungen der Seele, trafen die beiden Werke des gestrigen Gürzenichkonzertes zusammen: Brahms Schicksalslied und G. Mahlers Sechste Sinfonie. [. . . ] in der A-Moll-Sinfonie trifft der Hammerschlag des Schicksals den Einsamen zermalmend. In verzweifelter Stimmung führt da einer, der der Welt gestorben sein möchte, einen leidenschaftlichen Kampf gegen die Tücken und Jämmerlichkeiten des Alltags, wehrt sich vergeblich, sucht vergeblich Beruhigung am Busen der Natur. Der Weltmüde fällt unter den Hammerschlägen des Geschickes, und man hört sie. Zweimal saust

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