- 350 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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vorangehenden Sinfonien abhanden gekommene Mahler findet hier auf seine Weise, d.h. unter gewaltigen Kämpfen die Natur. Sie tut sich ihm, dem tragischen Menschen, nicht als freundliche Spenderin auf wie seinen romantischen Vätern, den Schubert und Bruckner, sie stürzt ihn gleichsam in den Kampf ihrer Elemente, in die Urgewalt ihrer grandiosen Einsamkeit. Zeugnis von den Stationen dieses Weges sind jene drei, eine geistige Einheit bildenden sinfonischen Bekenntnisse, diese Sechste im besonderen der Klang und Ton gewordenen Tragik des einsamen Menschen. [Ka24/B]
Mahlers persönlichstes sinfonisches Werk [. . . ] Es gibt wenige Werke Mahlers, in denen seine inständig suchende mit den tiefsten Problemen so leidenschaftlich, so verzehrend sich ausgelebt hat wie gerade in der sechsten Sinfonie, der »Tragischen«. [. . . ] Es ist kein Musizieren im gewöhnlichen Sinne, es ist eine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit den Fragen um das Letzte, Entscheidende, die ja Mahler, den Grübler und Sucher, niemals verlassen haben. Die Trostlosigkeit des einsamen Menschen, der Mahler immer geblieben ist, lastet auch über weite Strecken dieses Werkes [. . . ] . Diese leidenschaftlich dahinstürmende gigantisch aufgebaute Musik, in der es immer wieder von Sehnsuchtsschreien gellt, hat etwas Aufwühlendes, Erschütterndes. [. . . ] Ist so in diesem Werk [. . . ] alles von Innen geschaut und nach Innen gesagt [Ka24/C]

Wer Gustav Mahler noch immer nicht kannte, erfuhr aus der Erstaufführung der tragisch umschauerten sechsten Sinfonie, wer er war. Kein wunderlicher Heiliger, sondern ein Märtyrer, wenn dieser Ausdruck für einen Menschen hinreicht, der unter der Qual der erkannten Realität furchtbar leidet. Wäre überdies Mahler nicht als Musiker geboren, dann wäre er sicher ein Maler oder Dichter wie Strindberg etwa geworden, der ja schließlich, auch nach mancher Infernokrise als großer Bekenner aus der Einsamkeit heraus sprach und für den das Kunstwerk ebenfalls Erlösung aus persönlicher Krise bedeutete. Denn Mahlers Sechste ist ebensosehr aus dem höchsten Prinzip des Ich-Bewußtseins abgeleitet wie ihr das Siegel eines philosophischen Kopfes aufgedrückt ist, der es verlernt hat, mit den Feueraugen des Idealismus Mitwelt und Umwelt zu betrachten. Man kennt die Umstände näher, die in der äußerlich so glanzvollen Ära Mahlers in Wien (1897–1903 [sic]) gerade ihm, der zur Erreichung des künstlerischen Ideals sein Letztes hergab, das Leben verbitterten; in der Sechsten erlebt man mit die innere Metamorphose dieses Menschen, der verzweifelnd gerade das Beste, was er stets wollte, trotz äußerster Anspannung immer stärker abbröckeln sah. Conscientia scrupulosa ist es, die ihn diese, seine Gespenstersonate schreiben läßt, in deren düsterer Mollstimmung eine Welt zusammenbricht. [. . . ] des gigantischen Werkes [. . . ]wie er den Charakter stürmischer Freude aufklingen und versinken läßt [. . . ] Durch Fritz Cortolezis wurde das in seinem Ausmaß verwirrende Bild der Partitur verdeutlicht und zumal im letzten Satz so erschöpfend dargestellt, daß eine geradezu niederschmetternde Wirkung nicht ausblieb, daß der Sinn des Werkes jedem der zahlreichen Zuhörer offenbar wurde, wenn auch das Wort als Träger der musikalischen Idee, zu dem Mahler sonst gerne greift, in dem so ungeheuer groß konzipierte Gemälde fehlte. [Ka24/D]

die wegen ihres letzten Satzes den Beinamen »die Tragische« führt. [B24/A]

Ich [. . . ] stehe ihr mit einem gewissen Grauen gegenüber. Nirgends tritt das im Resultat Negative, das krampfhaft Angespannte seines Schaffens so deutlich in die Erscheinung als hier. Das ist das einzige »Tragische« an ihr. [B24/B]

die Sechste Sinfonie, die wohl im Hinblick auf die herben, grotesken Mißklänge der vierten Satzes die Tragische genannt wird. [. . . ] aber zugleich auch den aufmerksamen Zuhörer hochgradig nervös machen muß. Der Schöpfer dieser Hyper-Phantasie scheint sich damals selbst in einem solch überreizten Zustand befunden zu haben, dem er in entsprechenden Tönen Ausdruck geben wollte.[B24/C]

das Werk des Durchbruchs, mit dessen eiserner und bis zum Zerspringen angespannter Sonatenstrenge Mahler die Freiheit der späteren Werke sich erzwang und das als letzte gültige und im Ausmaß des Finales bereits versinkende Sonate Bestand hat. [. . . ] der sinfonischsten [. . . ] Mahler-Sinfonie [F26/A]

Gerade die sechste Sinfonie offenbart die tiefsten Wesenszüge, aber auch die Eigenheiten und Schwächen ihres Schöpfers in besonderem Grade. Man könnte von dem »Komplex Mahler« sprechen, der hier mit den Mitteln der musikalischen Psychoanalyse aufgehellt wird. An Deutungen der seelischen Beziehungen ist kein Mangel, die Sinnfälligkeit der orchestralen Einzelheiten liefert genügend Haftpunkte für die Erfassung des pessimistischen Grundklanges: Wahl der düsteren

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