- 349 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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mehr episodische und intermezzoartige Stellung; innerlich gehören sie noch zum Empfindungskomplex des ersten Abschnittes. Durchaus zwingend und überzeugend scheint mir diese Auffassung, namentlich soweit sie das Scherzobetrifft, nicht zu sein. [H21/C]
Wagner hat einmal das schöne und wahre Wort gesprochen von der Liebe als dem Geist der Musik. Nun aber suche man einmal in der A-Moll-Symphonie nach einem Klang der Liebe und nach dem Geist der Musik: Man wird ihn nicht finden. Fast in ihrem gesamten Verlauf betont sich in dieser Symphonie eine verletzende Lieblosigkeit, fast alles kommt aus Kälte, Härte, Ingrimm und ihre schlechte Laune läßt auf schlechte Verdauung, auf einen in Unordnung geratenen Körper schließen. Hat sie ein Menschenfeind geschrieben? Einer von den Abseitigen, von den Einsamkeitssuchern, die sich in ungenügender Selbstsucht verzehren, einer, von dem das Wort Goethes gilt: Erst ein Verächter, dann verachtet? Es ist grauenvolle Musik voll Verzerrungen, die von einem ständigen Kampf des Rhythmus erschüttert wird. Eine nahezu mephistophelische Lust am Verbiegen, Zerren und Karikieren, eine hysterische Freude an erregender Unnatur, an Spiegelungen wie aus hohl geschliffenen Gläsern heraus, die alles Gerade, Einfache, Schlichte zu grotesker Komik entstellen, kennzeichnet diese konstruktive, neurasthenische, wilde und phantastische [. . . ] Musik. [. . . ] dieser dem Zug der Zeit zum Monströsen, Unförmigen, Mammuthhaften folgenden Symphonie, die Mahler keineswegs überzeugend die »tragische« genannt hat, [H21/D]

diese monströse Symphonie [. . . ] Logisch auseinander entwickelt, sprunghaft, schrullenhaft, seltsam und anddauernd gestikulierend, zieht [. . . ] das Werk [. . . ] an uns vorüber, zerrissen, innerlich unerfreulich, prägnant, aber wenig eigenartig [H21/E]

diese »Tragische«, wie Mahler sie zu nennen pflegte oder mehr duldete. [. . . ] An den Heerdenglocken [stieß man sich seit der Uraufführung] – die kein Idyll andeuten, aber weiteste Einsamkeit, wohin nur verhallendes Erdengeräusch dringt. [. . . ] Entscheidend für das Tragische ist der erste Satz und der letzte [. . . ] Ein »großes Publikum« hat es selbst in dem langsamen Teile wie in dem [. . . ] Scherzo nicht leicht, die tonpoetische Deutung der thematischen Zusammenhänge zu finden. Auch damit, daß man es auf den das ganze durchziehenden symbolischen Akkord A-dur verweist, der sich nach Moll umdüstert, ist ihm wenig geholfen. Und in der Fülle der Varietäten, die sich da um ein Thema ranken im Verlaufe, kann manchem Aermsten angst und bange werden. Ohne daß man einen Einblick gewonnen in Mahlers komplizierte geistige Verfassung und seine Befruchtung aus tausend Ecken, von hundert Widerwärtigkeiten des Daseins, wird ein Verfolg gerade dieses Werkes erschwert. Man muß sich schon seine schwefelsaure Miene und die entsprechende Geistesverfassung sowie seine Kindlichkeit vorzustellen vermögen, um hinter diesem Dickicht auch reinere Sphären, ein ideales Ziel zu finden. Die Entstehungszeit des Werkes, eines ohne Frage gewaltigen Wurfs von Unerschrockenheit und zahlreichen Ueberspitztheiten, fällt in eine Wiener Periode, in der sich ihm der Ekel am Getriebe aufdrängte. [. . . ] Schon wenn man erwägt, daß die Sehnsucht nach Schönheit, nach der Reinheit des Unendlichen darin so spärlich zum Ausdruck kommt, daß die Schicksalshärte dominiert [. . . ] ist das [die geringe Aufführungsziffer] erklärlich [. . . ] Kein Zweifel, daß das alle Kontraste verschärfende Temperament Mahlers ihm in diesem Werke einen Weg gewiesen hat, daß man mit einem seiner Lieder sagen kann: er ist in keiner seiner Symphonien so sehr »der Welt abhanden gekommen« wie in dieser. [H21/F]

daß jetzt die Menschen mitgehen können mit seinen Werken und daß sie die Überzeugung gewonnen haben, daß Gustav Mahler ein Zeichner tiefer seelischer Empfindungen ist. [. . . ] Die Regungen des Menschen zum Guten oder Bösen, Licht und Schattenseiten im Leben gibt er naturalistisch wieder. [L21/A]

Gustav Mahlers Sechste, die »tragische« [. . . ] dieses wühlende und aufwühlende Werk [P23/A]

Zemlinskys Auffassung der Symphonie ist wirklich bemerkenswert, obwohl sie uns ein wenig »asentimental« und »physiologisch« erscheint. Wir Tschechen finden in Mahler ein wenig von unserem eigenen Blut, wir legen Nachdruck auf seine Melodien, während Zemlinsky vielmehr seine Rhythmik hervorhebt. Umso interessanter war es, zu sehen, wie ein Anhänger Schönbergs Mahlers Schaffen von seinem Standpunkte aus interpretiert. [P23/B]

Es ist nicht leicht zu dieser herben Symphonie ein inniges Verhältnis zu gewinnen [Ka24/A]

der gigantischen Monumentalität der Mahlersinfonie [. . . ] Sie [die Sinfonien 5–7] sind gewissermaßen die grandiosen Bekenntnisse von Mahlers Flucht in die Natur, von seinem unter den tiefsten inneren Erschütterungen vor sich gehenden Ringen um die Lösung des Ausgleichs zwischen Geist und Natur, um das Letzte und Tiefste menschlicher Sehnsucht. Der im mystischen Suchen der

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