- 302 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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nachgeschleppt! Wenn das Thema aber nicht bei jedem zweiten Takte hinkte, wäre es wie Hundert andere. Allein dieses siebente Achtel wurde durch die Schöpferkraft Mahlers hervorgetrieben. Auch der Gedanke aus dem Lisztschen Es-Dur-Konzert, der jetzt an den Eingang der Mahlerschen Sechsten verpflanzt ist, wurde durch Abbiegung einer einzigen Note gleichsam neu geschaffen. Wo sich Gustav Mahler wirklich entschlossen hat, ein ganzes Thema aus eigenem für seine Sechste Sinfonie beizusteuern, gestattet er dem Thema keine organische Entwicklung. Sofort wechselt die Klangfarbe, der rhythmische Charakter verschiebt sich, bevor er noch sicher erfaßt wurde; wie bei einer schlechten Theaterbeleuchtung wechselt ruckweise das Licht. Kaum acht Takte fließen gleichmäßig fort. Augenblicklich wird der Klang verdickt, geschärft oder zugespitzt, und wenn die äußeren Linien sich auch scheinbar ruhig fortbewegen, so klettern doch einzelne Motive dazwischen hinaus oder es werden instrumentale Effekte, die aus der widernatürlichen Verwendung der Klangcharaktere entstehen, ohne Unterlaß herzugepeitscht. Die Partitur enthält selbst die Bemerkung »Wie gepeitscht«. [. . . ] Die Holzblasinstrumente sind in der Sechsten Sinfonie Gustav Mahlers vierfach besetzt; die Klangmassen würden selbst große Gedanken erdrücken – in welchem kläglichen Verhältnisse stehen aber die fadendünnen, zumeist kurz abgehackten Motive zu den Strömen von Farben, die darüber ausgegossen sind. [W07/M]
Ich möchte etwas ähnliches auch von den melodischen Einfällen Mahlers sagen. Im ersten Satz erscheinen zuweilen ganz anziehende, leicht ins Gehör fallende Themen. Aber sie werden nie genug verwertet und verschwinden nach ein paar Takten wieder, ohne genügend entwickelt worden zu sein. Was hätte ein tüchtiger thematischer Arbeiter aus dem kühnen Aufschwung der Geigen gemacht, der nach den Anfangstakten des ersten Satzes hervortritt und berufen erscheint, die melodische Führung für längere Zeit zu übernehmen. Es steckt in ihm, wenn er richtig entwickelt würde, in mannigfachen Variationen erschiene und in entsprechende Kontraste gestellt würde, der Stoff für einen halben Satz. Zu früh verschwindet er vom Schauplatz, um nur den beliebten Klangeffekten Platz zu machen, nach denen der Komponist ein stärkeres Verlangen zu tragen scheint als nach organischer Entwicklung. [W07/O]

Anleihen von anderen Komponisten

Allgemein


Seine schöpferische Kraft ist ausgeprägter Eklektizismus. Auf ihn paßt das Bibelwort: »Wer suchet, der findet!« Und Mahler als erfahrener Mann sucht fleißig und findet überall Brauchbares – Brauchbares bei anderen Personen und in allen Zeiten. So ist denn seine Tonsprache ein Konglomerat der verschiedensten Ausdrucksweisen, mit mehr oder weniger Glück aneinander verkittet. Man sehe sich auf diesen Punkt hin einmal der ersten Satz an mit seinen stilistisch grundverschiedenen Themen, da steht neben einem heroischen Thema fast Beethoven’schen Charakters ein solches, welches unwillkürlich an das 16. Jahrhundert mit seinen polyphonen Künsten erinnert und gleich darauf folgt ein Thema, das seine romantische Abkunft nicht verleugnet. [. . . ] Da, wo uns die Sinfonie etwas zu sagen hat, ist es leider nicht so sehr Mahler, als irgend ein anderer Komponist, der, wenn auch etwas modern frisiert, zu uns redet. [E06/F]

Er zehrt ein und einhalb Stunden lang von Reminiszenzen, die noch dazu vielfach unbedeutend, manchmal geradezu trivial sind [E06/G]

Das thematische Material steht mit geringen Ausnahmen in verwandtschaftlichem Verhältnis zu allen möglichen, mehr oder weniger bekannten Vorbildern. Mahler zerbricht sich nicht weiter den Kopf über solch lächerlich nebensächliche »Zufälligkeiten«, kommt es ihm doch einzig darauf an, der Mit- und Nachwelt zu zeigen, welche Wunderwerke tonsetzerischer Technik sich zu Wege bringen lassen, wenn man den nötigen Mut hat, alle kleinlichen ästhetischen Bedenken über Bord zu werfen. [E06/H]

Das harte Wort, Mahler produziere nur Kapellmeistermusik, hat bis zum gewissen Grade seine Berechtigung. Seine musikalischen Einfälle stammen aus zweiter, dritter Hand [E06/I]

Bei der neuen Symphonie fällt es nun besonders auf, daß beinahe allen Themen ihre Provenienz nachzuweisen ist. Brahms, Wagner, Liszt, Bruckner, Mozart3, Schubert sind intervallgetreu herausgenommen. Ich sage das nicht als Reminiszenzenjäger. [E06/J]


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