- 299 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Man tut Unrecht, dem Sinfoniker Mahler die Herdenglocken, den Hammer, die Holzstäbchen, die an den Trommelrand schlagen, die Ruten, all das sonderbare Schlagwerk vorzuhalten. Es sind künstlerische Notwendigkeiten, die zu seinem innersten Wesen gehören. Man glaube nicht, daß der Tonsetzer Gustav Mahler durch seltsame Klänge und Schlager nur verblüffen will. Nein, er steht unter einem künstlerischen Zwang. Wenn er nichts anderes als dürftige, nichtssagende Themen findet und gleich im ersten Satz zu Brahms, Liszt und Bruckner sich wendet, um ihnen Motive abzunehmen, so kann er schließlich nur mit Trommeln und Ruten noch neue Wirkungen erzielen. Wäre er imstande, tragische Gefühle durch die Macht der Töne auszudrücken, so wollte er gern auf den Hammer und dessen Schicksalsschläge verzichten. Ihm mangelt aber die innere, wahre schöpferische Kraft. So greift er denn in der tragischen Sinfonie auf dem höchsten Punkte der Erregung zum Hammer. Er kann nicht anders. Versagen die Töne, so fällt ein Schlag. Das ist ganz natürlich. Redner, denen im entscheidenden Momente die Worte fehlen, schlagen mit der Faust auf den Tisch. . . Wurden nicht immer durch entsprechende Tonfolgen und Kombinationen in Sinfonien idyllische Empfindungen geäußert? Wer aber die Gabe dieser künstlerischen Mitteilung nicht besitzt, wird in den idyllischen Episoden einer Sinfonie einfach Herdenglocken läuten lassen. Die Lämmer denkt man sich leicht hinzu. Wer braucht denn musikalische Umwege, wenn der Zweck durch materielle Dinge direkt zu erreichen ist? [. . . ] Das Eigene bringen dann die zahllosen Vortragszeichen hinzu, die eine Mahlersche Partitur auch dann zu einem dicken Novellenbande anschwellen ließen, wenn bei ihnen keine einzige Note stünde. [W07/M]

Aber auch abgesehen von den unerwünschten Assoziationen, die durch Klangspiele und Geräusche erweckt werden, deutet deren Verwendung noch auf eine positive Schwäche in der Phantasie des Komponisten. Ein Künstler kann jedes Sujet zum Vorwurf künstlerischer Darstellung nehmen, auch eine Viehherde oder einen Eisenbahnzug. Doch er darf dabei nicht objektiv naturgetreu sein. Wer eine pastorale Stimmung in uns erzielen wollte, dürfte nicht Kuhglocken, Düngegeruch, Schafgeblök und was weiß ich was alles effektiv vorbringen. Dazu brauchen wir den Künstler nicht, das trifft die Natur selbst, und mit ihren Mitteln jeder Stümper. Aber mit zwei Violinen (also objektiv ganz inadequaten Mitteln) uns in eine Stimmung zu versetzen, wie es Haydn getan hat, eine Stimmung, in der wir uns das alles hinzudenken, was sich der Komponist gedacht hat, mit einem Worte in der Suggestionskraft eines Werkes, das mit objektiv unähnlichen Mitteln geschaffen ist, darin besteht die wahre Kunst. [. . . ] Aber an den beiden Ecksätzen vermögen wir uns nicht zu erfreuen. Sie sind zu dürftig in der Erfindung und im Verhältnis zu ihrem geringen Gehalt zu anspruchsvoll in der Anlage und besonders im Finale beinahe brutal in der dynamischen Wirkung. [W07/O]

Thematische Erfindung


Mahlers Vorstellungsvermögen muß vor allem in klanglicher Hinsicht ausgebildet sein: er denkt in Klängen, zu denen er eine Melodie findet. Denn seine Melodik ist bis auf gewisse rhythmische Wendungen durchaus unpersönlich und bei der Wahl seiner Themen ist er durchaus nicht anspruchsvoll. Volkstümliche, oft direkt banale Melodieen [sic] rekt [sic] er ins Pathetische hinein und gewinnt durch ihre Einfachheit jene Plastik, die seiner Tonsprache einen individuellen Charakterzug verleiht. Bei der sechsten Symphonie ist nun Mahler in der Auswahl nicht so glücklich gewesen wie früher; die Themen der fünften z. B. waren noch weit symphoniemäßiger gebaut wie die jetzigen, die eine Entwicklung von vornherein ausschließen. [E06/C],

Ein kerniger gesunder Zug, vielleicht am meisten an Bruckner gemahnend, ist dieser Tonsprache eigen, weichliche Sentimentalität fehlt ihr z. B. in den meist ansprechenden lyrischen Themen vollkommen. Die Tongedanken an sich wird man allerdings kaum sonderlich originell, eher sogar wie jene in den Mittelsätzen schlicht, populär nennen dürfen. Deutlich ist bei den Hauptgedanken der Außensätze das Streben bemerklich, das, was ihnen an konzentriertem Ausdruck etwa fehlen möchte, durch die Weite des Bogens zu ersetzen. So kommts, und das ist ebenfalls ein charakteristischer Gegensatz zu der mehr kurzmotivischen Musik der R. Strauß’schen Schule, daß Mahlers Themen, z.B. die Hauptgedanken vom ersten Satz und Finale zu fast unheimlichen Dimensionen ausgesponnen sind. Eigentlich besteht das Riesenthema des ersten Satzes aus einem zu einem Ganzen zusammenkonstruierten Gruppe von Unter-Abschnitten, von denen bald dieser bald jener entweder in originaler oder variierter oder polyphoner Form Verwendung findet. Daß in solchen Fällen mehr die Reflexion als ein eigentliches schöpferisches Ingenium zutage tritt, läßt sich nicht in Abrede stellen. Aber wie Mahler seine Themen zu entwickeln, sie von den verschiedensten

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