- 296 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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die stets wieder bewiesenen eminente Kunst der [. . . ] kontrapunktischen Arbeit [M06/D]

Und eine Folge dieser fortgesetzten Lebhaftigkeit ist die gelegentlich fadenscheinige Logik der Entwicklung. Es ist nicht ein Teil aus dem anderen abgeleitet, es überkommt dem Hörer nicht das Gefühl der zwingenden Notwendigkeit an der inneren Entwicklung, ohne das nun einmal grossartige Kunsteindrücke nicht zustande kommen. Es wälzt sich die ganze Masse des Orchesters immer fort und fort, bis wir auf einen Punkt angelangt sind, wo der Faden abgeschnitten ist. Weitaus am überzeugendsten wirkt in dieser Beziehung der Schlusssatz [sic], dessen Linienführung und temperamentvolle Ausarbeitung man in den ersten Sätzen vergeblich suchen wird. [M06/E]

Was ich aber neben der Gestaltungskraft am meisten bei Mahler bewundere, das ist sein geradezu fabelhafter Klangsinn. Da gibt es nicht, wie bei dem durchaus unorchestral denkenden Reger, einen Papierkontrapunkt, da gibt es auch nicht, wie selbst bei Richard Strauß, dem es nur auf den großen »Schmiß« ankommt, nebensächliche Füllstimmen, die nur approximativ ausgeführt zu werden brauchen, nein, alles ist hier bis aufs kleinste wirklich lebendig, innerlich gehört und kommt genau so heraus, wie es gedacht ist. In dieser Beziehung steht Mahler wirklich einzig da. [M06/G]

Es erübrigt sich bei einem Künstler wie Mahler die technische Seite des Werkes, die motivische Verarbeitung des Materials, die virtuose Orchesterbehandlung zu rühmen. [M06/H]

daß sich [. . . ] auch teilweise im Aufbau sehr Gelungenes findet [M06/J]

Man stelle sich einen Redner vor, der kein Thema durchführt, sondern nur eine Rede reden will, und zwar um des rednerischen Klangreizes willen, der jetzt Worte wählt, deren saftige Innigkeit nicht durch den Zauber ihres Inhalts, sonder durch den Zauber ihrer durchgewühlten Artikulation eine besondere Klangfarbe erzeugen soll, während es ihn gleich darauf wieder reizt, in diese Klangfarbe Sätze mit vollendetem, mächtigem Pathos zu mischen, das durch den Gegensatz nun noch mehr berauschen soll –, man braucht bloß an die eigenartig problematische Stellung des Englischen Malers Whistler zu denken, der Bilder in »grau-rot-silber« oder in »blau-weiß-gold« etc. malte, dem dabei der »Vorwurf« der Darstellung ganz Nebensache, Hauptsache lediglich der Mischungsreiz der Farben war! Gustav Mahler ist der musikalische Whistler; die Sensation der Klangmischungen ist das Farbige, Darstellungsreiz an sich. [. . . ] Mahlers Symphonie rollt sich auf wie ein riesenhafter Teppich in den merkwürdigsten, grell leuchtenden und wieder eigentümlich verdämmernden Farben, die ähnlich wie in Whistlers von John Ruskin so feurig bekämpften Maltafeln – in einander fließen und aus sich selbst eine Zeichnung – ein thematisches Muster! – nicht ergeben wollen. Vielleicht strebt Mahler solche Ahnungen mit Eigensinn an, jedenfalls müßte er dann plötzliche Eingebungen zur »Musterzeichnung« klassischen Stils streng unterdrücken und würde damit allerdings wieder, – um von der ›No. 6‹ zu sprechen – die anziehendsten Détails seines Gewebes auftrennen, die eigentlich einzig und allein die Hoffnung des besonnenen Betrachters immer wieder aufleben lassen: es könnte die energische und festcontourierte Persönlichkeit Mahlers doch noch einmal ihr innerstes Gesetz entdecken und nicht mehr musikalischen Schrullen nachsinnen, welche ja doch die Musik, diese Welt des Wesens, zur Welt des Scheines entäußern! [W07/A]

Der Bau war ja ganz übersichtlich [. . . ] Eine so endlos gespannte Melodienbrücke deckt nicht bloß die gefährliche Wasserfläche des von seltsamen inneren Erlebnissen mystisch bewegten Flusses, sondern auch manch sandiges Uferland, das niemanden kümmert, mag es auch zum Strome ebensogut gehören wie seine Wellen. Der Bau der Brücke imponiert durch seine konstruktive Kühnheit, doch erweckt die Furcht, daß er nicht den Stürmen der Ewigkeit standhalten könnte. [W07/B]

Dazu kommt, daß ihre [der beiden Ecksätze] Kontrapunktik eine sehr einfache ist. Sie haben keine Tiefe der Konstruktion, ihre Themen liegen stets an der Oberfläche, sind durch zahlreiche Füllstimmen harmonisch verstärkt, aber nur in geringem Grade kunstvoll verarbeitet. [. . . ] Ich möchte etwas ähnliches auch von den melodischen Einfällen Mahlers sagen. Im ersten Satz erscheinen zuweilen ganz anziehende, leicht ins Gehör fallende Themen. Aber sie werden nie genug verwertet und verschwinden nach ein paar Takten wieder, ohne genügend entwickelt worden zu sein. Was hätte ein tüchtiger thematischer Arbeiter aus dem kühnen Aufschwung der Geigen gemacht, der nach den Anfangstakten des ersten Satzes hervortritt und berufen erscheint, die melodische Führung für längere Zeit zu übernehmen. Es steckt in ihm, wenn er richtig entwickelt würde, in mannigfachen Variationen erschiene und in entsprechende Kontraste gestellt würde, der Stoff für einen halben Satz. Zu früh verschwindet er vom Schauplatz, um nur den beliebten

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