- 283 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Zusammenhang mit der kontrapunktischen Häufung steht auch die orchestrale. Denn das Stimmindividuum fordert sein Instrument und umgekehrt, und sollen dann wieder die wichtigsten Stimmen deutlich gemacht werden, so werden Verstärkungen nötig, die zu Massigkeit führen. [W07/H]
Anstatt [. . . ], raffiniert er seine Meisterschaft der Instrumentierungskunst und sucht in ihr alle Rivalen, zuletzt sich selbst zu übertreffen, ohne zu merken, daß er die Grenze des Möglichen längst erreicht und hinter sich gelassen hat. Ein Idealist, der mit beschwingter Seele das Reich des Ahnungsvollen durcheilen möchte, darf seine Flügel nicht mit bunter Farbe und aufgestrichenem Golde lähmen, sonst wird aus dem Paradies- ein Pechvogel, der sich am Boden des glatten Naturalismus abzappelt. Wenn der Orchesterpoet in unendlich fein differenzierten Klangverbindungen das Unerhörte zu versinnlichen trachtet, erniedrigt er sich nicht zum prosaischen Lärmmacher, der den gemessenen, bestimmten Ton, diese ewige Grundlage der Musik, für das willkürliche, regellose Geräusch eintauscht, um in der Schallmasse von kleiner und großer Trommel, Becken, Tamburin, Triangel, Tamtam, Holzklapper, Rute, Hammer, Kirchen- und Heerdenglocken zu schwelgen! Anleihen bei primitiven Werkzeugen barbarischer Natur- und Volksmusik sind kaum dem ordinären Theaterpraktikus erlaubt, geschweige denn einem auf feinere und tiefere Wirkungen ausgehenden Symphoniker. Das Unglück ist, daß Mahler, der das wüste Zeug im Finale seiner sechsten Symphonie braucht, es dort auch wirklich nötig hat, um die akustischen Gewaltmaßregeln des ersten Satzes auf das grausamste zu überbieten. Wer gleich mit vier Flöten, Oboen, Klarinetten, Baßklarinetten, drei Fagotten, Kontrafagott, acht Hörnern, vier Trompeten, drei Posaunen und Baßtuba nebst türkischer Musik, Xylophon, Glockenspiel, Herdenglocken, Harfen und doppelt besetzter Celesta anrückt, müßte schließlich Knallbüchsen schweren Kalibers oder noch besser Bomben und Kanonen auffahren lassen, wenn er konsequent sein will. Gong und Hammer sind um kein Haar edlere Instrumente, und ihr Getöse bleibt hinter tüchtigen Kanonenschlägen doch zurück, ohne mehr zur Erhöhung der tragischen Würde beizutragen. [. . . ] Die leidigen Herdenglocken, die nur in das Andante nicht hineinläuten [W07/J]

Der technische Trick dieser Sinfonie im allgemeinen und dieses Finales im besonderen besteht in der rücksichtslosen Ausnützung aller Möglichkeiten der Schlaginstrumente. Außer den Ehrwürdigen Pauken, den großen und kleinen Trommeln, dem Tamburin, dem Tamtam, den Becken, der Triangl [sic] und dem Glockenspiel kommen noch tiefgestimmte Glocken, ein Xylophon, eine Holzklapper, Ruten, Kuhglocken – die vielen Kühe in dieser »tragischen« Sinfonie haben besondere Heiterkeit hervorgerufen - dann die neuerfundene Celesta (Stahlklavier) und als besonderer Clou ein Hammer, der die Donnermaschine bearbeitet, vor. Sie alle vollbringen einen Heidenlärm und ergehen sich in den ärgsten Kakophonien. Komisch, in dieses Orchester hineinzublicken, wo jeden Augenblicke einer mit wilden Gebärden auffährt. Man erinnert sich übrigens an das bescheidene Vorbild dieser Exzesse, an Hektor Berlioz. [. . . ] aber Berlioz ist der reine Waisenknabe im Vergleiche zu Mahler. [W07/L]

Im Finale nehmen die Schlaginstrumente und die exotischen Instrumente allein fünfzehn Zeilen ein: Glockenspiel, Herdenglocken, Tiefes Glockengeläute (»zwei oder mehrere sehr tiefe Glocken von unbestimmtem, aber voneinander verschiedenem Klang, in der Ferne aufgestellt und leise und unregelmäßig geschlagen«), große Trommel, Triangel, kleine Trommel, Becken (mit Schwammschlägeln oder Paukenschlägeln bewegt), Holzklapper, Tamtam, Rute, Hammer und Stahlklavier (Celesta). [. . . ] Die Holzblasinstrumente sind in der Sechsten Sinfonie Gustav Mahlers vierfach besetzt; die Klangmassen würden selbst große Gedanken erdrücken – in welchem kläglichen Verhältnisse stehen aber die fadendünnen, zumeist kurz abgehackten Motive zu den Strömen von Farben, die darüber ausgegossen sind. [W07/M]

Die Wahl der instrumentalen Mittel gibt aber auch in anderer Beziehung zu ernsten Betrachtungen Anlaß. Wer die Instrumentation der Sechsten Symphonie kennt, oder nur das spielende Orchester sieht, erwartet von dem ungewöhnlichen Apparat auch außerordentliche Effekte. Ich finde, daß diese weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind, und komme auf den Gedanken, daß die erzielten Klänge mit den gewöhnlichen einfacheren Mitteln auch zu erreichen gewesen wären. Der Hammer, die Ruten, das Holzgeklapper, die Celesta und das Xylophon sind durchweg Instrumente, die viel mehr von sich reden machen, als sie zu hören geben. Sie sind wirklich nur ein äußerlicher Flitter, der eher stört, als begeistert oder ergreift. Ich kenne nur zwei Arten von Kompositionen, wo die Mitwirkung von Lärminstrumenten eine so große Rolle spielt wie bei Mahlers tragischer Symphonie. Die eine sind die Kindersymphonien von Romberg und Haydn. Da ist der Kuckuck, die Nachtigall, die Schnarre, das Triangel und zuweilen spielen überhaupt nur sie und

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