- 262 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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werden können, sondern durchaus als Phasen des Verstehens mit eigenem Recht, eigenen Vorzügen und eigenen Mängeln zu gelten haben, deren Folge eine grundsätzlich unabschließbare Entwicklung des Kunstverstehens und Kunstinterpretierens ergibt.«5
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Ebd. Sp. 1055.

Danuser zeigt hier eine pluralistische und tolerante Haltung gegenüber verschiedenen Verstehenswegen. Diese Grundhaltung steht insgesamt im Zeichen der Konzeption der hermeneutischen Spirale, die Hans-Georg Gadamer als Weg zum Verstehen in den Geisteswissenschaften entwickelt hat.6

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Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960.
Trotz des Aufzeigens dieser drei gleichberechtigt nebeneinanderstehenden Typen der Interpretation wird aber der erste, intrinsische Typus von großen Teilen der Musikwissenschaft favorisiert, die beiden anderen Typen erfahren dagegen erheblich weniger Zuneigung. Das zeigt sich schon an den beispielhaften Publikationen, die Danuser für die drei Typen nennt: Beim ersten Typus ist es ein zweibändiger umfangreicher Sammelband, in dem allen Werken Beethovens eine Interpretation zugekommen ist, die von insgesamt 70 vor allem deutschsprachigen Musikwissenschaftlern verfaßt worden sind. Beim zweiten Typus handelt es sich um ein dreibändiges Werk eines einzelnen Musikwissenschaftlers. Beim dritten Typus schließlich nennt Danuser ein 25-seitiges Kapitel innerhalb eines fast 500-seitigen Buches7
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Edward E. Said, Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Aus dem Amerikanischen von Hans-Horst Henschen, Frankfurt/M. 1994; das Aida-Kapitel auf den Seiten 165–190.
eines amerikanischen Kulturwissenschaftlers. Darin läßt sich die unterschiedliche Bedeutung der drei Typen in der gegenwärtigen Musikwissenschaft klar erkennen.

Wenn man aber neben dem ersten auch den zweiten und dritten Interpretationstypus zur Erkenntnis eines musikalischen Kunstwerkes zuläßt, dann sollte der Interpretationskonstante innerhalb eines Pluralismus von Deutungen eine Rolle zum Verstehen der Sechsten Symphonie und der Soldatenlieder zukommen. Jenseits eines Dogmatismus, der nur eine Interpretation – oder Interpretationsart – zur richtigen erklärt, darf sie Beachtung erwarten. In dem Maße, wie Mahlers Auseinandersetzung mit der Sonatenform im Zentrum des Interesses steht, müssen politische Untergangsvisionen zurücktreten. Unter dieser Zugangsweise kann man zu anderen Ergebnissen gelangen, wie in jüngerer Zeit Oechsle und Geck gezeigt haben. Es kann nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, daß diese Zugangsweise Mahlers Musikverständnis entspricht (vgl. Kapitel III). In dem Maße, wie man »tönende Symbole« in den Mittelpunkt des Verstehens dieser Musik stellt, gewinnt die Interpretation einer politischen Untergangsvision an Anziehungskraft.

In der Auseinandersetzung der Musikwissenschaft mit der Rezeptionsästhetik der Literaturwissenschaft sind eine Reihe von Bedingungen für deren Übertragung geäußert worden. Eine ganz zentrale Forderung ist der Bezug der Rezeption zum Werk, wie es sich im Notentext darstellt. Damit soll der Gefahr begegnet werden, daß das Werk seine Identität verliere, wenn man es allein von seiner Rezeption aus betrachtet. Friedhelm Krummacher weist auf die Rückführung einer Rezeption auf das Werk hin, die mit dem IV. Kapitel der vorliegenden Arbeit einzulösen


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