- 260 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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die sich vom Glanz der Parade-Märsche extrem unterscheiden. Da ist ferner das Motto, das Negativität in sich birgt, und der Katastrophen-Schluß. Aber es ist nicht zwingend, anhand dieser Gestaltmerkmale das 80-minütige Werk als Vision eines militärischen Untergangs zu determinieren. Schließlich gibt es auch auf Seiten der Rezeption Anlaß, die Interpretation zu bezweifeln: Will man den Untergang als einen militärischen an der Musik festmachen, so müßte man den Marsch über weite Strecken der Sechsten mit Ausnahme des langsamen Satzes erkennen und nicht nur im ersten Satz und diesen Marsch als ein Symbol für Militär und Krieg determinieren. Weder das eine noch das andere läßt sich an der Rezeption des Werkes erkennen, weder vor noch nach dem Krieg. Der Marsch wurde vor allem im ersten Satz vernommen, weniger im Finale und überhaupt nicht im Scherzo. Die Heterogenität der wissenschaftlichen Publikationen bezüglich des Ausmaßes der Marschpartien (vgl. Kapitel IV) spiegelt sich also in den Rezeptionsdokumenten wider, gleichsam geben sie den Hinweis, wo der Marsch vorrangig und wo er gar nicht wahrgenommen worden ist. Als musikalisches Symbol des Krieges ist er kaum verstanden worden. Dennoch wurde der Marsch in der Symphonie immer völlig anders beschrieben als mit den Charakteristika des hingehämmert, dämonisch, ernst, Grobschmieds-Stil, in einigen Fällen kriegerisch und militärisch. Die Rezeptionsgeschichte gibt hier also Antworten auf Fragen, die der analytische Zugang zum Werk offenließ: über Ausmaß und Wirkung des Marsches. Auch hier fördert die im VI. Kapitel angewendete Methode signifikante Ergebnisse zutage. Die Interpretationskonstante wird aber insgesamt von der Rezeption nicht bestätigt. Breitere Hörerschichten haben das Werk nicht im Sinne einer Vorahnung verstanden und darin ebenso wenig militärische Katastrophen wahrgenommen, sondern eine andere Richtung des Verstehens eingeschlagen.

Neben diesen Aspekten, die argumentativ die Interpretationskonstante infrage stellen, gibt es Gründe, ihr ein Maß an Aufmerksamkeit zukommt zu lassen: Mahlers Lebensumstände zeigen, daß er politischen Bedrohungen in einem beachtlichen Ausmaß ausgesetzt war. Seine Musik sollte sich nach seinen eigenen Worten mit der Welt und seinen Erfahrungen darin beschäftigen. Er selbst hat erwogen, daß er den Gehalt seiner Musik nicht in Gänze zu erfassen vermöge. Die Idee, daß der Künstler im Schaffen kommende Ereignisse vorausahne, ist schon im Mahler-Schrifttum vor seinem Tod präsent und wird auf ihn selbst zurückgeführt. Nimmt man nun an, er habe aufgrund eigener Erfahrung die Krisenhaftigkeit der Zeit wahrgenommen, daraus eine Vision kommenden Untergangs entwickelt und diese schöpferisch im Werk verarbeitet, ohne sich bis ins letzte darüber bewußt zu werden, dann gelangt man zur Idee der Interpretationskonstante. Diese Annahme beinhaltet aber ein Maß an Spekulation, das wissenschaftlichem Erkennen widerspricht und entsprechend zurückgewiesen werden muß. Dennoch mag eine gewisse Faszination von dieser Konstruktion ausgehen.

In der musikwissenschaftlichen Auseinandersetzung um den Begriff und das Problem musikalischer Interpretation lassen sich, dem MGG-Artikel von Hermann Danuser zufolge, zwei Hauptbedeutungslinien unterscheiden: die hermeneutische und die performative Interpretation. Als hermeneutischer Begriff umfaßt er »die verbalsprachliche Deutung musikalischer Werke sowie die deutende Erklärung jedweder ihrer Aspekte im Kontext von Musikkultur und Musikgeschichte«3

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Hermann Danuser, Artikel »Interpretation«, in: MGG2, Sachteil Band 4, Kassel-Stuttgart 1996, Sp. 1054.
. Auf dieser Ebene,

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