- 259 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (258)Nächste Seite (260) Letzte Seite (410)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

wahrgenommen als vor 1914. Dieses Negative wurde als etwas Individuelles gesehen und vielfach mit Mahlers Persönlichkeit in Verbindung gebracht. Ein weltgeschichtlicher Bezug zu diesem Negativen findet sich dagegen erheblich weniger. Die sich in den Zeitungskritiken niederschlagende Rezeption zeigt einen anderen Weg des Verstehens, der ebenso an Merkmalen des Werkes festzumachen wäre, was aber hier nicht Gegenstand der Untersuchung war. Diese Rezeption hat ein weites Wahrnehmungsfeld ausgeschritten, das einen individuellen Untergang in vielfältigen Schattierungen zeigt. Eine Politisierung der Musik, wie man sie in den Zwanziger Jahren ausmachen kann, schlägt sich auf die Charakterisierung von Mahlers Sechster in Zeitungskritiken der Zeit also nicht nieder.

Die rezeptionsgeschichtlichen Untersuchungen der vergangenen Jahre lesen sich vielfach als Heroengeschichten. Immer wieder sind es wichtige Rezipienten – besser Interpreten –, die nach ihrer Wahrnehmung eines Werkes oder eines Komponisten befragt werden, was sich an der Bach- oder -Rezeptionsgeschichtsschreibung ablesen läßt. Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, daß diese Protagonisten-Interpretationen nicht analog auch für die Rezeption breiterer Hörerschichten gelten. Sie zeigt in ihrem VI. Kapitel einen Weg rezeptionsgeschichtlichen Forschens, der eine große Zahl von Kritiken verschiedener Zeit mit numerischer Vorgehensweise auswertet und daraus Schlüsse zieht. Dieses hier in der musikhistorischen Rezeptionsforschung erstmalig angewandte numerische Auswertungsverfahren kann noch differenziert und auf größere Bereiche angewendet werden. Sowohl die Auswertung größerer Mengen von Zeitungskritiken als auch ihre numerische Erschließung dürfte der Musikgeschichtsschreibung, zumindest der Rezeptionsforschung noch weitere Erkenntnisse ermöglichen. Hier betrifft die Methode nur den letzten der sechs Untersuchungsschritte. Der große Umfang, den dieses Kapitel innerhalb der Arbeit einnimmt, liegt in der Methode selbst begründet. Das Kapitel stelle – über die Fragestellung dieser Arbeit hinaus – eine Rezeptionsgeschichte der Sechsten Symphonie zwischen 1906 und 1933 dar. Die im Anhang komplett wiedergegebenen rubrizierten Rezensionen können für weitere Untersuchungen herangezogen werden.

Eine Reihe von Aspekten sprechen gegen die Interpretation von der Vorahnung der Katastrophen des Jahrhunderts. Da ist zunächst Mahler selbst, der sich niemals in auffälliger Weise politisch interessiert gezeigt hat. Es gibt zu wenig Dokumente, die darauf schließen lassen, daß politisches Wahrnehmen und Nachdenken einen gewissen Raum in seinem Leben einnehmen. Hier unterscheidet er sich von seinen Vorfahren Beethoven und Wagner (s. Kapitel II) und von seinen Nachfahren Eisler, Hartmann, Nono und Henze. Auch ein akzidentielles schöpferisches Eingehen auf politische Entwicklungen, wie es vormals bei Beethoven (Eroica, Wellingtons Sieg u.a.), Wagner (Eine Kapitulation) und Brahms (Triumphlied) und später bei Schönberg (Ode to Napoleon, Survivor from Warshaw), Martinu (Memorial to Lidice), Penderecki (Trenos u.a.) und neben den oben genannten bei vielen anderen zu finden ist2

2
Hier sind nur beispielhaft einige wichtige Kompositionen engagierter Musik genannt. Es kann nicht Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein, ein komplette Auflistung politisch orientierter Musik zu liefern.
, läßt sich bei Mahler nicht ausmachen. Auf Seiten der Musik gibt es in der Sechsten über weite Strecken die vielen düsteren und bedrohlichen Marschpartien,

Erste Seite (i) Vorherige Seite (258)Nächste Seite (260) Letzte Seite (410)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 259 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang