- 180 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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da auszuwertendes Material kaum vorliegt. Mahler hat die Sechste Symphonie an drei Orten selbst dirigiert: die Uraufführung am 27. Mai 1906 in Essen, eine Aufführung am 8. November 1906 in München und eine letzte Aufführung am 7. Januar 1907 in Wien. Hinzu kommt eine Durchspielprobe in Wien vor der Uraufführung. Eine vierte Aufführung fand im Beisein Mahlers unter dem Dirigenten Oskar Fried am 8. Oktober 1906 in Berlin statt. Bei diesen Aufführungen 1906/07 wurde die performative Interpretation in drei Fällen vom Produzenten geleistet, wodurch ein hohes Maß an Identität mit dem Produkt angenommen werden kann.14
14
Zur Problematik vgl. Klaus Kropfinger, Überlegungen zum Werkbegriff, in: Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft, hg. von Hermann Danuser und Friedhelm Krummacher, Laaber 1991, S. 115–131, bes. S. 120.
Im vierten Fall – Berlin 1906 – dürfte durch die Anwesenheit des Produzenten eine große Nähe zu seinen Vorstellungen erreicht worden sein. Die Aufführungen der zwanziger Jahre sind in ihrer interpretatorischen Eigenart kaum zu erschließen. Es gibt zunächst – natürlich – keine Aufnahmen. Die Kritiken zu den Aufführungen ergehen sich zumeist in Gemeinplätzen von größtenteils hoher Anerkennung für die Lösung der schwierig zu bewältigenden Aufgabe. Darüber hinaus gibt es nur selten aussagefähige Hinweise zur Art der Interpretation. Da es sich bei den Aufführungen der zwanziger Jahre zu einem Großteil um Erstaufführungen in den jeweiligen Orten handelt (Frankfurt, Wiesbaden, Hamburg, Bremen, Karlsruhe, Aachen, Köln, Dresden, Chemnitz und Hannover), konzentrieren sich die Kritiken vornehmlich auf das Werk und nicht auf die spezifische Art der Interpretation. Immerhin stehen drei der Dirigenten dieser Zeit in unmittelbarer Mahler-Tradition: Oskar Fried, der die Aufführung in Berlin 1906 leitete, Klaus Pringsheim, der bei der Uraufführung der Sechsten anwesend war, und Alexander Zemlinsky. Fried leitete die Aufführungen in Wien 1919 und 1920, Pringsheim diejenigen in Berlin 1920 und 1924, Zemlinsky dirigierte das Werk 1923 in Prag. Zwei weitere Dirigenten, die in persönlichem Kontakt mit Mahler gestanden haben, Bruno Walter und Otto Klemperer, haben die Sechste niemals aufgeführt15
15
Gespräche mit Klemperer, hg. v. Peter Heyworth, Frankfurt 1973, S. 46.
. Aber auch die Nähe zum Komponisten bietet keine Gewähr auf Übereinstimmung der performativen Interpretation – man denke etwa an die Unterschiede der Interpretationen von Willem Mengelberg und Bruno Walter16
16
Klaus Kropfinger, Überlegungen zum Werkbegriff, ebd.
.

Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Art der dirigentischen Wiedergabe eines Werkes ihre verbale Charakterisierung durch den Hörer mitbestimmt. Die Gefahr, daß durch die Vielzahl verschiedener Dirigenten der jeweilige Weg vom Werk zum Hörer durch eine unberechenbare Größe verändert werde, kann aber doch einerseits durch die Mahler-Tradition eingegrenzt werden. Des weiteren wird die Variabilität dadurch begrenzt, daß zwei Dirigenten mehrfach in der Aufführungsliste der Sechsten zwischen 1919 und 1933 vertreten sind: Carl Schuricht fünfmal und Clemens Krauss dreimal.

Es lassen sich in der Variabilität der Dirigenteninterpretation und ihrer Auswirkung auf die Charakterisierungen der Musik auch Vorteile für die hiesige Fragestellung erkennen. Wir haben es dabei mit einer Rezeption im doppelten Sinne zu tun: mit einer assoziativen Rezeption der performativen Rezeption. Das verringert jedoch nicht den Aussagewert der Charakterisierungen – im Gegenteil, es stellt ihn


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