- 158 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Expressionistische Spuren zeigen sich bei Redlich in den Begriffen »Chaos« und »Kosmos«, anhand derer er die Musik Mahlers diskutiert. Mahler wird aber explizit als »Der letzte Romantiker«150
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Hans Ferdinand Redlich, Gustav Mahler. Eine Erkenntnis, Nürnberg 1919, S. 8.
bezeichnet und von neueren Strömungen abgegrenzt. Auch in Hermann Bahrs Schrift »Expressionismus«, datiert Himmelfahrt 1914, erschienen jedoch erst 1916, wird Mahler nicht mit dem Expressionismus in Verbindung gesetzt.

Ebenso hat Adorno in seinen Schriften durch die Jahrzehnte hindurch den Expressionismus auf musikalischer Seite immer mit den Werken Schönbergs und seinem Schülerkreis aus den Jahren 1910 bis 1920 in Beziehung gesetzt. Mahler weise allenfalls in manchen Passagen auf diese Entwicklung voraus:

»Neu ist der Ton. Er bürdet der Tonalität einen Ausdruck auf, dessen sie von sich aus schon nicht mehr fähig ist. Indem sie überfordert wird, überschreit sie sich: eine Bläserstelle des Scherzos der Siebenten Symphonie, auch eine Oboenstimme der ›Rewelge‹ bezeichnet die Partitur als »kreischend«. Das Forcierte aber wird selbst zum Ausdruck. Tonalität, die große musikalische Vermittlungskategorie, hatte sich konventionell-abschleifend zwischen die subjektive Intention und das ästhetische Phänomen geschoben. Mahler erhitzt sie von innen, vom Ausdrucksbedürfnis her derart, daß sie noch einmal aufglüht, redet, als wäre sie unmittelbar. Als explodierende vollbringt sie, was danach an die emanzipierte Dissonanz des Expressionismus überging.«151

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Adorno, Mahler, S. 31f.

Es ist auch zeitlich problematisch, Mahler als ganz frühen Expressionisten zu determinieren, denn sein Schaffen endet mit dem Beginn des Expressionismus. Es liegen mindestens fünf Jahre zwischen der Vollendung der Sechsten 1904 (Reinschrift datiert 1. Mai 1905) und dem Entstehen der ersten expressionistischen Gedichte 1909/10. Die Trennlinie zwischen Mahler und dem Expressionismus ist in kompositionstechnischer Hinsicht die Tonalität, der Mahler noch verpflichtet ist, die eigentlichen Expressionisten aber nicht; Atonalität ist wesentliches musikalisches Kennzeichnen des Expressionismus.

Aber er steht nicht weit entfernt davon, an der Schwelle des Expressionismus. Rudolf Stephan sieht die »in Dissonanzen schwelgenden, heftig kontrastreichen Werke« als »geschichtliche Vorform des Expressionismus«. Bei Mahler nennt er gerade die Sechste. Daneben stehen Werke des »wilden Reger« wie die Symphonische Phantasie und Fuge für Orgel op. 57, die auch Inferno-Phantasie genannt wird, die Opern Salome und Elektra von Richard Strauss und die Werke Schönbergs bis zur Kammersymphonie op. 9 (1906).152

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Stephan, Art. »Expressionismus«, in: MGG2, Sachteil Band 3, Sp. 246.

Die Interpretationen aber, die sich eine Generation später um Mahler bemühen, weisen deutliche Spuren des Expressionismus auf. Das zeigt sich in den sprachlichen Wendungen, mit denen Adorno und Redlich – beide 1903 geboren – die Sechste Mahlers 1930 beschreiben. Wie Redlich ist auch bei Adorno schon früh ein Zugehen


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