Diese drei Zitate entstammen dem mit »Herbst 1919« datierten Vorwort von Kurt Pinthus zu der von ihm herausgegebenen Lyrik-Sammlung Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. An drei Stellen im Verlauf des Textes weist er darauf hin, daß in der Lyrik des frühen Expressionismus der Erste Weltkrieg vorausgeahnt sei. Und im Vorwort zur Neuauflage des Buches 1959 untermauert er diesen Gedanken: »So müssen wir denn annehmen und hinnehmen, daß die expressionistische Dichtung in ihren Visionen und Formen mehr als jemals eine Generation vorher das voranzeigende Barometer der Erschütterungen unseres Jahrhunderts war – nicht nur in den schauerlichen Vorahnungen des ersten Weltkrieges und der durch ihn bewirkten Zusammenbrüche bisheriger Ordnungen und Werte, sondern weit über den zweiten Weltkrieg und die erste Jahrhunderthälfte hinaus bis zur Hilflosigkeit gegen die derzeitige Selbstzerstörung der Menschheit.«145
Mit dem letzten Satz sind, wie das Folgende andeutet, die Atomversuche im Pazifischen Ozean gemeint, die sich in den fünfziger Jahren ereigneten. Die Idee der Kriegsahnung bei den expressionistischen Lyrikern ist später als Klischee bezeichnet und zurückgewiesen worden.146
Auch auf musikwissenschaftlicher Seite ist dieser Topos zentral, was aus Karl H. Wörners Expressionismus-Artikel der alten MGG hervorgeht: »In seiner vollen Tiefe wird der Expressionismus aber erst erfaßt, wenn der künstlerische Mensch als eine Art Seismograph des Zeitgeschehens verstanden wird, der Unterirdisches aufspürt und Kommendes vorausnimmt. So ist der Expressionismus in seiner ersten Phase eine Vorwegnahme der kommenden Erschütterungen durch den Weltkrieg, der Revolutionszeit und des Nachkriegschaos.« 147
Liest man nun vor allem die letzten beiden Zitate, so stellt man eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Ausführungen Hans Ferdinand Redlichs zu Mahlers Sechster fest, die eingangs dieser Arbeit zitiert wurden. Bei Redlich »prophezeit die VI. Symphonie die Schrecknisse dieses von zwei Weltkriegen zerpflügten Jahrhunderts«148
»Hans Ferdinands Mahler hat mir das zweite Mal noch viel besser gefallen. Er denkt tiefer und klarer, als er, expressionistisch angesteckt, schreibt. Er hat so viel zu sagen, daß er’s nicht nötig hätte, gelegentlich die Brauen so hoch zu ziehen, als ob er noch ein ganz geheimnisvolles Mehr, ein Extra-Mehr zu sagen hätte. Sehr viel Freude macht mir die kleine Schrift.«149
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