- 153 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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der Sätze innerhalb der Symphonie hier vertauscht sei. Der erste Satz bringe »Aufschwung und Triumph, der letzte den Niedergang, die Katastrophe«129
129
Ebd. S. 219.
. Bekkers Fazit lautet:

»Die Sechste ist die einzige von Mahlers Sinfonien, die nicht sieghaft, wie die erste, zweite, fünfte, siebente, achte, nicht verklärend, wie die dritte, vierte, neunte schließt. Und doch wäre es falsch, der Tragik, die sie kündet, eine zu weitgehende Deutung zu geben. Mahler schildert die Tragik des zum Untergang bestimmten Einzelwesens, das dem Widerstand der Materie erliegt. Erliegt aber nur im Hinblick auf die persönlich bedingte Existenz, nicht im Hinblick auf den lebendigen Willen. [...] Der Einsame nimmt den Weg zurück zur Natur, zu[r] Welt, zu[m] Menschen. Es entsteht die siebente Sinfonie, und in ihrem Schatten wächst langsam reifend die Krone des Mahlerschen Schaffens heran: die Achte.«130

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Ebd. S. 232f.

Bekker sieht in ihrem »niederdrückenden Gedanken- und Stimmungskreis«131

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Ebd. S. 211.
auch den Grund, warum die Symphonie so wenig zugänglich und am seltensten aufgeführt ist. Ein wenig klingt es nach Entschuldigung, der Hinweis auf die vielen positiven Sinfonien Mahlers erscheint als Beschwichtigung. Das Motiv, Mahler für seine Sechste zu entschuldigen und ihre Negativität zu beschwichtigen wird ein bleibendes Moment in der Rezeptionsgeschichte der »Tragischen« in den Zwanziger Jahren bilden. Jegliche Inbeziehungsetzung des Marsches zum Militär und des Katastrophenschlusses zum Krieg unterbleibt kategorisch bei Bekker.

Die Position Bekkers muß umso mehr erstaunen, als er sich in Aufsätzen während des Weltkrieges vehement für eine gesellschaftspolitische Funktion der Kunst und des Künstlers eingesetzt hat.132

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Paul Bekker, Kunst und Krieg I (1914), Kunst und Krieg II (1915), Künstler als Politiker (1917), in: Ders.: Kritische Zeitbilder, Berlin 1921, S. 205.
Sein Gedankengang geht dahin, den Künstler mit seinen spezifischen Fähigkeiten der Wahrnehmung und Empfindung stärker in die politische Willensbildung einzubinden. Die Möglichkeit allerdings, daß auch das künstlerische Produkt eine Aussage zu gesellschaftspolitischen Fragen enthalten könne, erwägt er nicht. Die Kunst lebt weiterhin neben der Welt her und dient zur Erholung von den Mühen des Tages. Die politische Arbeitskraft des Künstlers liege jenseits der Kunst.133
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Bekker, Künstler als Politiker (1917), S. 202.
Und falls der Musik eine gesellschaftliche Dimension innewohnt, ist sie allein positiver Art:

»Wir erwarten von ihr, daß sie die Wunden, die die Völker sich jetzt schlagen, nicht weiter aufreiße, sondern sie heile, daß sie die Ströme Blutes, die jetzt von Land zu Land fließen, in Adern einer warm und tätig pulsierenden Lebenskraft verwandle und alle, Besiegte und Sieger, zu neuen, reicheren Menschen umschaffe.«134

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Bekker, Kunst und Krieg I (1914), S. 182.

Die Idee, daß in der Musik als Kunst eine dezidiert gesellschaftskritische Perspektive entdeckt werden könne, ist der Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg noch


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