- 152 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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daß Specht zu einer Verknüpfung seiner Gedankengänge nicht gelangt ist. Er hat sie jedenfalls nicht mehr ausgeprochen.

Ebenso wie Specht thematisiert Paul Stefan 1923 den Krieg:

»Oder ist es nicht, als seien diese Symphonien nur denkbar vor einer großen Wandlung der Menschheit? Mußte [...] da nicht bald Ahnung zur Wirklichkeit werden, der Krieg ein schweres Tor in die Finsternis drohend auftun?«123

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Paul Stefan, Mahler für Jedermann, Wien-Leipzig 1923, S. 9f.

Wo sich diese Ahnung in den Symphonien niederschlage, bleibt auch hier offen. Stefans Behandlung der Sechsten in jenem kleinen Buch mit dem Titel Mahler für jedermann bleibt ohne jeden Hinweis auf den Krieg.

Die vor dem Weltkrieg von Specht geäußerten Idee von der untergehenden Welt wurde nach 1918 von ihm selbst, von Neißer und Stefan auf den Krieg bezogenen. Dem wandte sich Paul Bekker in seinem Mahler-Buch von 1921 – Vorwort datiert »Hofheim i. T., im Oktober 1920« – entschieden entgegen:

»Nichts konnte ihm ferner liegen, als Verkündigung eines Weltuntergangs, als künstlerische Gestaltung einer Vernichtungsbotschaft.«124

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Paul Bekker, Gustav Mahlers Sinfonien, Berlin 1921, S. 208.

»Die Tragik des Einzeldaseins, die Vorbestimmung zur Vernichtung, die Machtlosigkeit gegenüber dunklen, unfaßbaren Gewalten führt zum Untergang. Es gibt wenige Werke der Kunst, namentlich der Musik, die diesen Untergang mit so fanatischer Erbarmungslosigkeit mit so unerbittlicher Härte der Erkenntnis darstellen.«125
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Ebd. S. 210.

Während bei Bekker die Vorstellung des Untergangs ganz dezidiert mit der Sechsten verbunden bleibt, ist es also nun nicht mehr die Welt, sondern ein einzelner, der damit konfrontiert wird. Ein Rückzug ins Private also. Im Begriff der Vorbestimmung klingt die Idee der Antizipation durch, die aber bei Bekker rudimentär bleibt. Als biographischen Anhaltspunkt für die genannte Grundstimmung erwähnt Bekker Mahlers Operntätigkeit und die Demission von Wien, während eine Inbeziehungsetzung der Sechsten mit den privaten Tragödien unterbleibt:

»Es mag wohl sein, daß bereits damals [1903/04], wo Mahlers Wiener Tätigkeit schon dem Ende zuneigte und verbitterte Kämpfe seinen Ideenschwung oft lähmten, ähnliche Gedanken und Stimmungen in ihm aufstiegen. Sie bedeutet kein abschließendes Bekenntnis, wohl aber eine ergreifende Episode im Leben Mahlers. Eine innere Krisis, die den starken um so heftiger packt, je mehr er sich seiner Einsamkeit bewußt wird.«

Breiten Raum schenkt Bekker der Erklärung des Marsches. Grundsätzlich sei im Marsch bei Mahler die Vorstellung des Fortschreitens, des Sichbewegens, des Entstehens in der Bewegung, der unablässigen Veränderung eingeschlossen.126

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Ebd. S. 212.
Man könnte den ersten Satz auffassen als »Ausmarsch eines Höhenwanderers.«127
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Ebd. S. 210.
Es gelte, das Empordringen, das Steigen musikalisch zu symbolisieren. Der formschaffende Wille sei in der Sechsten die Idee des Hinaufklimmens, des allmählichen Sichhebens.128
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Ebd. S. 213.
Den Katastrophenschluß erklärt er damit, daß die übliche Bedeutung

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