- 154 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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fremd. Wie Richard Specht versucht auch Paul Bekker, aus Mahlers Musik positive Energien für die bedrückende Gegenwart zu gewinnen. Dieser Idee wird Adorno entschieden entgegentreten, wenn er im Schlußsatz seines Mahler-Buches postuliert: »Ohne Verheißung sind seine Symphonien Balladen des Unterliegens.«

Im Mahler-Heft des Anbruch 1930 hatte Redlich erstmals Mahlers Musik als Vorausweisung auf den Ersten Weltkrieg dargestellt, ohne jedoch die Sechste direkt anzusprechen. Aus dem Zusammenhang geht jedoch hervor, daß er vor allem die Sechste und Siebente Symphonie und die Soldatenlieder im Auge hat, daneben die Trauermärsche der Ersten, Zweiten und Fünften Symphonie. Adorno, der der Zeitschrift als Redakteur angehörte, publizierte im gleichen Heft seinen frühesten Mahler-Aufsatz unter dem Titel Mahler heute, in dem es zur Sechsten Symphonie heißt:

»Das Finale der Sechsten, wohl das gewaltigste Formwesen aus Mahlers Reich, schmilzt endlich die Formkruste, die der erste Satz dialektisch gehärtet hatte, wie wenn ganze Länderregionen vulkanisch erglühten und ihre Siedlungen in einem Feuerstrom ineinanderstürzten; der Marschrhythmus wird zum Signal der Katastrophe und der tragische Ausdruck des Satzes [...] rechtfertigt sich aus der Form selber; hier wird nichts von ewiger Liebe und Auferstehung einer verblasenen Allnatur erzählt, sondern vom Ende der symphonischen Sonate oder, um das intentionale Objekt beim rechten Namen zu nennen, vom Ende der Ordnung, die die Sonate trug; nie, vielleicht Van Goghs Bilder ausgenommen, ist die Krise der bürgerlichen Welt materialgerechter und unliterarischer, nie aber auch mit größerem revolutionärem Impuls in ästhetische Bilder gebannt worden als in diesem Satz. Er ist die Zäsur von Mahlers Entwicklung und alles Spätere bricht aus dem vorgesetzten Musikraum aus; der erste Satz der Siebenten antwortet aufs Finale der Sechsten wie vom anderen Ufer des Grenzstromes, darüber den Mahlerschen Traumbatallionen die schwankenden Pontons geschlagen wurden. Vom Ufer der Siebenten aus erscheint die archaische Welt, die den Anstoß der Revolte gab, bereits gespenstisch und schemenhaft.«135

135
Theodor Wiesengrund-Adorno, Mahler heute, in: Anbruch 12 (1930), S. 90f.

Adornos Mahler-Interpretation, die sich zentral in seinem Buch von 1960 niedergeschlagen hat, ist in diesem dreißig Jahre zuvor erschienenen Aufsatz in manchen Aspekten vorgeprägt. Er spricht die Sechste dezidiert an, während Redlich nur Mahlers Musik allgemein behandelt. Demgegenüber bringt Redlich Mahlers Musik aber eindeutig mit dem Weltkrieg in Verbindung, während Adorno vorerst noch Bezüge zu Naturkatastrophen – dem Vulkanausbruch – herstellt. Er konfrontiert diesen Vernichtungsgedanken mit erlebten politischen Entwicklungen: die Krise der bürgerlichen Welt und die Revolte. Damit nennt er zwar auslösende Faktoren des Krieges, erwähnt den Krieg selbst aber nicht. Implizit scheint er sich aber in den Begriffen wie »Traumbataillone« und »schwankende Pontons« abzuzeichnen. Die Katastrophe als eine dezidiert militärische zu determinieren, vollzieht er erst später. Adornos Gedanken lassen sich als Weiterentwicklung der Ausführungen Spechts von vor dem Weltkrieg erfassen. Die Vernichtung einer Welt wird nun mit gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen verknüpft. Der Untergang, den Adorno in


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