- 151 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (150)Nächste Seite (152) Letzte Seite (410)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Mit dem Krieg war also ein reinigendes Gewitter verbunden worden, deren erwartete Auswirkungen – der Verzicht auf alles Frivole, Lügenhafte und Überflüssige, die Rückkehr zur Seriosität und zu sich selbst – jedoch nicht eingetreten seien. Das Blut der Millionen sei umsonst vergossen worden. Die Stimme der Werke Mahlers dagegen kündige der Humanität ihre Unsterblichkeit an. Auf sie müsse gehört werden, wenn man sich nicht selbst verleugnen wolle.

In seinem Vortrag beim Amsterdamer Mahler-Fest im Mai 1920 knüpft Specht diesen Faden weiter. Er beklagt, daß man in Mahlers Musik nicht verstanden habe, »was als Aufschrei der Zeit und als zeitlose Verheißung höherer Menschlichkeiten von jedem gefühlt werden mußte«, und wagt die Behauptung, »so absurd sie klingen mag«,

»daß der Krieg niemals hätte kommen können, wenn die Stimme dieser Musik wahrhaft gehört und verstanden worden wäre und daß kaum eine andere, der wir vertrauen können, wie sie die Macht hat, uns aus allem Trostlosen, Fragwürdigen und Wirren unseres jetzigen Lebens hinaus in ein besseres zu führen.«121

121
Richard Specht, Gustav Mahlers Sieg, in: Das Mahler-Fest Amsterdam Mai 1920, hrsg. von C. R. Mengelberg, Wien und Leipzig 1920, S. 36f.

Beim selben Autor lautet dieser Gedanke des Trostes 1921 ähnlich:

»Nicht die Bewunderung, die diese Kolossalbauten der Symphonik wecken [...] ist es, was zu Mahlers Werk zwingt. Sondern die Botschaft der Liebe, die aus dieser Musik klingt, der Trost des Unverlierbaren, das uns diese entsetzensvollen Jahre rauben wollten und das, in diesen Tönen aufbewahrt, zu allen Zagenden und Hoffenden mit einer Macht der Gewißheit spricht, die Rettung aus den Zweifeln und dem Leid der Stunde bedeutet und Verheißung für eine Menschheit ist, die sich fast schon aufgegeben hatte. Dazu aber in stärkstem Maße: der Mensch, der hinter dieser Musik steht, der alles für uns im voraus erlitten hat, was über uns hereingebrochen ist, und der doch, nach allen Stürmen und allem Schmerz, mit einem Segenswort für die ›liebe Erde‹ zu scheiden vermochte.«122

122
Richard Specht, Gustav Mahlers Gegenwart, in: Moderne Welt 3 (1921/22), Heft 7, S. 2.

Kontinuierlich sieht Specht in der Sechsten den Untergang einer Welt zum Ausdruck gebracht. Ebenso kontinuierlich postuliert er, Mahlers Musik berge Vorahnungen zukünftiger Ereignisse in sich. Nach dem Ersten Weltkrieg beklagt er, in Mahlers Musik habe man den Aufschrei der Zeit nicht gehört. Das Wahrnehmen ihrer Stimme hätte den Krieg verhindern können. Zieht man diese Ideen zu einem Gedankengang zusammen, so gelangt man zur Interpretationskonstante von Redlich, Ratz und Adorno. Specht gelangte bis zu seinem Tod 1932 jedoch nicht zu dieser Assoziation. Für ihn steht im Mittelpunkt, Mahler insgesamt als Verkünder humanitärer Werte für eine zukünftige Menschheit zu präsentieren: Seine Werke sind die Bergpredigt unserer Zeit. In dieses Konzept einer ganz auf die Vermittlung positiver Werte ausgerichteten Mahler-Interpretation paßt die musikalische Darstellung einer Kriegskatastrophe nicht hinein. Hierin mag der Grund zu sehen sein,


Erste Seite (i) Vorherige Seite (150)Nächste Seite (152) Letzte Seite (410)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 151 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang