- 150 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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mit drei neueren »Stimmen« zu dieser Thematik auseinandersetzt, die jedoch nicht namentlich genannt werden, auch eine Bezugsquelle ist nicht angegeben. Die dritte, hier relevante Stimme ist Max Brod, den Stefan einen »verdienten, aber durchaus zionistisch eingestellten Literaten« nennt. Er hatte in der Zeitschrift Der Jude 1917 ausgeführt, daß die vielen Marschrhythmen – und weitere Eigenheiten – in Mahlers Musik auf ostjüdische, chassidische Volkslieder zurückzuführen seien. Obwohl das Judentum in Mahlers Oberbewußtsein keine große Rolle gespielt habe, gebe es bei ihm eine jüdische Seelenstimmung. Aus diesem »unbewußten Urgrund seiner jüdischen Seele mußte er so und nicht anders musizieren«.116
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Max Brod, Jüdische Volksmelodien, in: Der Jude 3 (1916/17), Heft 5, S. 344f. ; wiederabgedruckt in: Max Brod, Gustav Mahler. Beispiel einer deutsch-jüdischen Symbiose, Frankfurt/M. 1961, S. 25–27.
Paul Stefan tritt diesem Gedanken entgegen und wiederholt das traditionelle Erklärungsmuster, indem er die Marschrhythmen auf die Militär- und Bauernmusik von Mahlers böhmischen Kinderjahren zurückführt. Mit der Position Brods setzte sich Hans Ferdinand Redlich noch in seinem MGG-Artikel 1960 auseinander. Der andere Aspekt bezieht sich auf zwischen den einzelnen Ausgaben eingetretenen Ereignisse. In der Auflage von 1910 ist vom Tod der Tochter keine Rede. In der Ausgabe von 1912 spricht Stefan sowohl den Tod der Tochter als auch Mahlers Tod an: »die Kindertotenlieder hatten die schwere Erschütterung des Vaters sechs Jahre vorher geahnt«. Das diagnostizierte Herzleiden habe sich im Lied von der Erde niedergeschlagen.117
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Stefan, Mahler, 1912, S. 66; 1920, S.69.
Die gleichen Bezüge knüpft Richard Specht.118
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Specht, Mahler (1913), S. 162.
Die Sechste findet keine Erwähnung im Zusammenhang mit diesem privaten Unheil.

Nach 1918 beziehen die älteren Mahler-Autoren die Erfahrung des Krieges vorsichtig in ihre neueren Publikationen mit ein. Dabei versuchen sie, aus Mahlers Musik positive Energien für die bedrückende jüngere Vergangenheit zu gewinnen.

1918 erörtert Specht in der Revue d’Autriche, die Sechste beschreibe »un fin du monde d’une puissance horrible, foudroyante«119

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Richard Specht, Mahler, in: Revue d’Autriche 1 (1918), S. 324.
. Am Ende des Artikels kommt er auf den Krieg zu sprechen:

»La guerre a cruellement dévasté notre vie intellectuelle: on avait espéré que, dans ces tristes jours, toutes les frivolités seraient répudiées, que l’on reviendrait aux choses sérieuses, que tout ce qui était mensonger et superficiel serait balayé, que l’on rentrerait en soi-même et qu l’on méditerait en présence de son âme. Mais ces espérances ont été trompées. L’égoïsme, l’envie, la vanité dominent sans réserve et il semble que le sang de tant de millions d’hommes ait été versé non pour nos biens les plus sacrés, mais seulement pour quelques gains sordides, pour des cupidités effrénées ou des ambitions brutales. Ce sang doit de nouveau être sanctifié. Toujours et toujours plus énergiquement, nous devons faire connaître ces biens sacrés, les garder dans leur pureté, les conserver aux générations futures et obéir à la voix qui annonce à l’humanité son immortalité. De nos jours, jamais cette voix ne s’est élevée plus pure, plus digne, plus émouvante que dans les œuvres de Gustave Mahler. On l’entendra. Il faut que nous l’entendions si nous ne voulons pas renoncer à nous-mêmes.«120

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Ebd. S. 325.


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