- 149 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Klang der Militärkapellen an. Aber die Frage nach der semantischen Funktion dieser Militärkapellen unterbleibt, ebenso wie die Ergründung der so vorherrschenden Marschrhythmik: es sei eben eine Vorliebe Mahlers. Bis hierhin ist der später virulente Gedanke, Mahler habe in dieser Symphonie den eigenen Tod antizipiert, noch nicht geäußert worden. Die Bestätigung des antizipierenden Vermögens sah man vor allem in den Kindertotenliedern, während man Mahlers Tod mit dem Lied von der Erde und der Neunten Symphonie in Verbindung brachte.110
110
Adler, Mahler, 77.
In die Sechste projizierte man dagegen keine autobiographische Dimension hinein, sondern sah sie als Parabel von Vernichtung und Untergang allgemein. Die Idee einer untergehenden Welt findet sich wiederholt bei Specht. Dabei ist zu berücksichtigen, daß diese Idee in jener Zeit breiten Raum in allen Sphären der abendländischen Kultur einnahm, was um die Jahrhundertwende im Fin-de-siècle-Geist zu finden ist und ab 1910 im Frühexpressionismus (s.u.).

1918 erschien eine kleine Reclam-Biographie von Arthur Neißer – das Vorwort ist mit »Baden bei Wien, 1917« datiert – in der ein Bezug zur politischen Entwicklung angedeutet ist:

»Die ganze Tragik des Weltgeschehens bricht aus der Sechsten Symphonie hervor [...]. Sie sollte gerade in unserer Zeit, die von Tragik so ganz erfüllt ist, öfters gespielt werden. Nicht als ob sie geeignet wäre, in dem wilden Schmerz der Menschheit von heute zu wühlen. Man kann ja unseren Künstler nicht gründlicher mißverstehen, als wenn man aus seiner schon öfters erwähnten ›tragischen Gesinnung‹ vorschnell auf einen unversöhnlichen Schopenhauerschen Pessimismus schließen wollte. Gerade das Grundmotiv dieser Symphonie, die unmittelbar aufeinanderfolgenden Dreiklänge von A-Dur und A-Moll, zeigt symbolisch, daß das Gegebene eigentlich die Lebensbejahung ist, daß sich jedoch das Weltenschicksal nicht um diesen ›Strohhalmoptimismus‹ der armen Menschheit kümmert, und daß daher der Mensch sich in sein unabänderliches Schicksal mit tragischer Heiterkeit zu fügen habe.«111

111
Arthur Neißer, Gustav Mahler, Leipzig 1918, S. 100f.

Des weiteren spricht Neißer von Weltuntergangstimmung, von Hexensabbath und von Tonvisionen usw., gibt aber keinen Hinweis auf militärisches Klangkolorit. Das Werk könne nur ganz selten bei einem feierlich-tragischen Anlaß gespielt werden.112

112
Ebd. S. 104f.

In der neuen Ausgabe des Mahler-Buches von Specht, dessen Vorwort mit dem 18. Juli 1918 datiert ist, gibt es bezüglich der Charakterisierung der Sechsten keine Änderungen; die oben zitierten Passagen sind wörtlich übernommen, wie diese Ausgabe sich überhaupt nur in Nüancen von der Vorkriegsausgabe unterscheidet113

113
Vgl. eine Änderung bzgl. der Wunderhorn-Lieder im vorigen Kapitel.
.

Das gleiche gilt auch für die Darstellung der Sechsten in der erweiterten Nachkriegsausgabe von Paul Stefans Mahler-Buch, das 1920 erschien – die Passagen sind von 1910 bzw. 1912 wörtlich übernommen. Zwei hier relevante Aspekte sind jedoch hinzugefügt. Schon in der Ausgabe von 1912 war gegenüber derjenigen von 1910 ein Kapitel mit dem Titel Werk und Rasse hinzugekommen.114

114
Stefan, Mahler, 1912, S. 18–22.
In der Ausgabe von 1920 hat Stefan diesem Kapitel eine knappe Seite hinzugefügt115
115
Stefan, Mahler, 1920, S. 22f.
, auf der er sich

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