- 142 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Mahler von Seiten des Musikwissenschaftlers. Darauf weist Redlich im Vorwort seines Buches Bruckner and Mahler von 1955 hin. Er sei Mahler als Kind persönlich begegnet und erinnere sich lebhaft an die Freundschaft zwischen seinem Vater, dessen Bruder und Mahler; auch habe er Kontakt zu Mahlers Witwe und seiner Tochter gehabt.75
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Hans F. Redlich, Bruckner and Mahler, London 1955, S. VI.
Gleich zu Anfang seiner Broschüre kommt Redlich auf den vergangenen Krieg zu sprechen. Dieser Krieg habe die politisch-illusorische Wirkung, die die Musik Wagners ein halbes Jahrhundert ausgeübt habe, zerstört. Die musikalische Welt sei für Ablösung reif. »Daß diese durch das Werk Mahlers geschehen wird, ist gewiß«, so Redlich. Er spricht die besondere rassische Veranlagung Mahlers an, die jüdisch-slawische Wesensmischung, wendet sich aber gegen den platten Antisemitismus eines Rudolf Louis. In diesem Zusammenhang nennt er das Tragische als Grundzug von Mahlers Musik. Allerdings sei nur in den Kindertotenliedern und in der Sechsten Sinfonie der Ausklang rein tragisch. In der Fünften und Siebten Sinfonie bringe ein jauchzender Schlußsatz die Erfüllung.76
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S. 21.
In der Burleske der Neunten Sinfonie glaubt er »Mahlers geschändetes edles Judentum aufschreien zu hören«77
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S. 25.
. In den Wunderhorn-Gesängen entdeckt Redlich den Humor Mahlers78
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S. 29.
; in Revelge und Tamboursg’sell sieht er die »gespenstige Soldatenromantik Mahlers«79
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S. 17.
. Die »Erkenntnis« mündet darin, daß er »in Mahlers Gesamtschaffen das Symbol eines zukünftigen idealeren, geistigeren Oesterreichs« erblickt. Seine Kunstwerke »haben Elemente der slavischen Volksmusik in sich aufgenommen und die Romantik des bajuwarischen Deutschtums verarbeitet«, »den jüdischen Intellekt überwunden und sind endlich von einem romantischen Katholizismus ausgegangen«80
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S. 33.
.

Bei aller Eigenwilligkeit dieser »manchen als keck erscheinenden Hypothese«81

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S. 33.
des Sechzehnjährigen zeigt sich in dieser Schrift, daß Mahlers Musik und die politisch-gesellschaftlichen Prozesse der Zeit viel stärker auf einander bezogen werden als es früher der Fall war. Es ist ein Schritt in Richtung auf die Mahler-Rezeption um 1960 getan. Die oben skizzierte Auseinandersetzung zwischen Mayer und Adorno gibt also in nuce die Entwicklung der Interpretationsgeschichte wieder: von der Selbstaussage zur kollektiven Verbindlichkeit. Die Wunderhorn-Lieder werden allerdings in diese politisch orientierte Interpretation – vorerst noch – nicht einbezogen.

Im Mahler-Sonderheft der Musikblätter des Anbruch, in dem sich 1920 die Crème der bis dahin in Erscheinung getretenden Mahler-Freunde und -Forscher zusammenfanden – Specht und Stefan, Redlich, Adler, Alfred Roller und Hermann Bahr, schließlich Natalie Bauer-Lechner und Friedrich Löhr –, referierte Egon Lustgarten über Mahlers Lyrik. Auch bei ihm klingt ein neuer Ton an, wenn er die Wunderhorn-Lieder aus der naiven Sichtweise der Soldatenromantik herauslöst und schreibt, das militärische Stoffgebiet werde für Mahler zum »Symbol der Problematik der Willensfreiheit überhaupt«82

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Egon Lustgarten, Mahlers lyrisches Schaffen, in: Musikblätter des Anbruch 2 (1920), S. 271.
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