- 135 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Errungenschaften jener Entwicklung nach sich zogen. Duse widerspricht Adorno hinsichtlich der Ursache für Mahlers Nähe zum Wunderhorn, während er die Ausrichtung der aus dem Wunderhorn entstandenen Kunstwerke ähnlich sieht:

»Mahlers Partizipation an der Welt von Des Knaben Wunderhorn ist faktisch durch die Tatsache vermittelt, daß die Bilder aus dem Dreißigjährigen Krieg respektive jene, die um diese Epoche direkt gravitieren, Erinnerungen in ihm wecken, die die Wälder Böhmens und Mährens jahrhundertelang bewahrten. Diese Texte lassen in der Erinnerung Bauernlieder, Trompetenstöße, Militärmusik aus der Garnison, traurige Kantilenen der Frauen auf den Schwellen der Häuser, fromme lutherische Choräle, trostlose jüdische Wiegenlieder wiederaufklingen, und dies fließt in einem einzelnen Menschen zusammen, der, so hat es fast den Anschein, zum seltsamen Schicksal berufen war, die heile Wiener Welt anfangs zu verstören, in der Folge zu skandalisieren, um sie schließlich zu terrorisieren, indem er über sie die Lawine jener Erinnerungen als dunkle Weissagung der Trümmer hereinbrechen läßt.«31

31
Duse S. 171.

Die Formulierung »dunkle Weissagung der Trümmer« darf als Synonym für die von Ratz, Redlich und Adorno postulierte Vorahnung der Katastrophen des Jahrhunderts angesehen werden. Duse spricht deutlich die Themenkreise der Soldatenlieder an, ihre »hartnäckig ätzende Einstellung zur Fahnenflucht, zu den kriegsbewirkten sentimentalen Tragödien«, »die psychologische Erwägung des Seelenzustandes des Soldaten, der potentiell immer schon als Deserteur ein Toter ist«32

32
Duse S. 177f.
. Aber die Motivation hierfür sieht Duse nicht in Mahlers politisch linksorientierter Weltsicht wie Adorno – »Mahler war ein Sozialist, daran kann gar kein Zweifel bestehen«33
33
Adorno im NDR-Interview mit Hans Mayer 1967, s.o.
–, sondern in Reminiszenzen aus einer nicht gelebten Kindheit. Diese Reminiszenzen bilden die in der Kindheit erlebten Volkslieder, die wiederum stark geprägt sind von den Geschehnissen des Dreißigjährigen Krieges,

»eines Krieges, dessen ungezählte Ereignisse fähige Dichter, von Schiller bis Brecht, fanden; eines Krieges, der tiefe Narben des Blutes und des Todes in Böhmen und Mähren, insbesondere unter den dortigen Juden, hinterließ; eines Krieges, in dem Mahler sich wiederfinden konnte. Sein Elend und seine Tragödien, das Blutbad, das er verursachte, drängten das Volk dazu, in und vor den katholischen und protestantischen Kirchen, innerhalb und außerhalb der Synagogen, in Liedern entsetzter Resignation, voll düsterer Todesahnung und absoluter Ungewißheit des Künftigen seinen Ausdruck zu suchen, die dann einen großen Teil des Knaben Wunderhorn bildeten.«34

34
Duse, S. 168.

Musikalisch weist Duse diese Reminiszenzen am Vorhandensein von Elementen der den Texten jeweils zugehörigen Volksliedmelodien in den Wunderhorn-Vertonungen Mahlers nach – er spricht von mnestischen Transformationen. Das Verhältnis von Mahlers Liedern zu den Volksliedmelodien wurde hier schon eingehend erörtert und anders gesehen als Duse (Kap. IV). Ferner sind die von Mahler vertonten Texte


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