- 134 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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er habe die Programmusik aufs Schroffste abgelehnt und sei auf symphonische Objektivität aus gewesen. In diesen Zusammenhang bringt er Mahler in Verbindung mit einem Gedanken Schönbergs, der in einem Aufsatz über das Verhältnis zum Text geschrieben hatte, er überlasse sich dem Wortklang der ersten Zeile, ohne sich über den Sinn eines ganzen Gedichtes viel Rechenschaft zu geben. So habe sich auch bei Mahler die Musik emanzipiert, die Selbständigkeit der musikalischen Bauformen sei ihm wichtiger als die Abhängigkeit vom Sinn der Texte – nie sei beabsichtigt worden, eine psychologische oder eine musikalische interpretatorische Form im Verhältnis zur Lyrik zu geben. Adorno findet dieses Verfahren schon bei Schumann – nicht aber bei Wolf –, und Mahler habe dieses weiterentwickelt und ein neues Liedideal geschaffen. Obwohl beide Diskutierenden nach dem Gespräch betonten, daß »Mißverständnisse beseitigt werden konnten und es weithin zu einer Einigung kam« (Mayer)26
26
Hans Mayer, Gustav Mahler und die Literatur (1983/1989), S. 156.
, daß »Mayer seine Positionen derart erläuterte, daß die Spitze abgebogen wurde« (Adorno)27
27
Th. W. Adorno, Zu einem Streitgespräch über Mahler, S. 123.
, kam es doch in dieser Frage zu keiner Einigung. Nirgendwo stimmte Mayer zu, daß Mahler dem von Schönberg formulierten Lied-Ideal verpflichtet sei. Noch 1983 schrieb er, niemand werde behaupten können, »daß sich Gustav Mahler ähnlich verhalte wie Arnold Schönberg: indem er – angeblich – vom zeitgenössischen Poeten nichts anderes erhofft als eine Art der Initialzündung durch Wortklänge, Rhythmen oder Reizwörter«28
28
Hans Mayer, Gustav Mahler und die Literatur (1983/1989), S. 152.
. In Puncto Subjektivität versus Objektivität scheinen sich beide dahingehend geeinigt zu haben, daß Mahler in den Liedern – denen des Wunderhorn – subjektiv seine Empfindung äußere, diese aber nicht sein subjektives Inneres betreffe, sondern die objektive Gesellschaft und Welt: Selbstaussage (Mayer) aber nicht von sich, sondern mit kollektiver Verbindlichkeit (Adorno). Der autobiographische Charakter ist durch diese mühsam hergestellte Übereinkunft jedenfalls nicht in Frage gestellt, die Inhalte der autobiographischen Aussagen werden nur unterschiedlich gelesen.

Adornos Interpretation der Nähe Mahlers zu den Wunderhorn-Texten trat Ugo Duse bald nach Erscheinen des Adornoschen Buches entgegen – in einem Aufsatz, der aber erst 1989 in der deutschen Übersetzung einem größeren Publikum bekannt wurde.29

29
Ugo Duse, Studio sulla poetica liederistica di Gustav Mahler, in: Istituto Veneto di Scienze 110 (1960/61), deutsch als: Der volkstümliche Ursprung des Mahlerschen Liedes, in: Musik-Konzepte Sonderband Gustav Mahler, München 1989, S. 159–179. Diese und andere italienische Arbeiten Duses zu Mahler aus den sechziger und frühen siebziger Jahren sind von der deutschen Mahler-Forschung kaum rezipiert worden.
Er widersprach der Auffassung des »Mißtrauens gegen den Frieden der imperialistischen Ära« und behauptete gegenüber dieser »Haltung des dilettierenden Marxisten«:

»Mahler lebte zwar in Zeiten, die die Katastrophe vorbereiteten, aber es fehlen in jeder Hinsicht Beweise, die für ein Bewußtsein seinerseits zeugen.«30

30
Duse S. 168.

Die Zeiten Mahlers seien die der friedlichen Entwicklung des Kapitalismus gewesen, Zeiten, die durch Phänomene der Degeneration der Sozialdemokratie und Trade-Union gekennzeichnet seien, bestimmt durch Illusionen, die die quasi friedlichen


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