- 12 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Der Autor weist diese These besonders an Mahlers Dritter Symphonie und an seiner Wiener Operndirektion nach. Diese Yale-Dissertation entstand im Umkreis von Carl E. Schorske, dem Kulturwissenschaftler, der sich vielfach mit dem Wien der Jahrhundertwende beschäftigte und Mahler immer wieder in seine Überlegungen einbezog.46
46
Carl E. Schorske, Mahler and Klimt: Social Experience and Artistic Evolution, in: Daedalus 111 (1982), Nr. 3, S. 29–50; Ders., Eine österreichische Identität: Gustav Mahler, Wien 1996.
Die aufgeworfenen Fragenkreise werden in dieser Arbeit verfolgt und für das Verstehen der Sechsten Symphonie fruchtbar gemacht werden.

Den Weg einer semiotischen Untersuchung der Sechsten unternahm Robert Samuels 1995.47

47
Robert Samuels, Mahler’s Sixth Symphony. A Study in Musical Semiotics, Cambridge 1995.
Sein Ergebnis lautet extrakthaft, daß die Sechste Symphonie eine narrative Struktur besitze, die archetypisch den Romanen Madame Bovary von Flaubert und Anna Karenina von Tolstoi entspreche.48
48
Samuels, S. 150.
Den Ausgangspunkt bildet Adorno, der die romanhafte Struktur der Mahlerschen Musik postulierte und – sogar – Madame Bovary explizit nannte. Samuels zitiert Adorno: »Nicht Musik zwar will etwas erzählen, aber der Komponist will Musik machen, wie sonst einer erzählt.«49
49
Samuels, S. 133; Adorno, Mahler, S. 85f..
Samuels folgt dabei einer Untersuchung von Newcomb, der mit ähnlicher Methodik Mahlers Neunte mit Charles Dickens’ Bildungsromanen Oliver Twist und Great Expectations verglich.50
50
Anthony Newcomb, Narrative Archetypes and Mahler’s Ninth Symphony, in: Music and Text: Critical Inquieries, hg. v. S. Scher, Cambridge 1992, vgl. Samuels S. 137–140.
Vordergründig mag das an Arnold Scherings Beethoven-Interpretation aus den dreißiger Jahren erinnern. Jahren erinnern. Aber ganz anders als Schering, der Beethovens Programme aufdecken wollte, geht es den semiotischen Arbeiten um das Aufzeigen vergleichbarer Strukturen in unterschiedlichen Kulturerzeugnissen. Mit keinem Wort behauptet Samuels, Mahler habe mit seiner Sechsten den Inhalt irgendeines Romans vertont. Schon der Verweis auf Adorno zeigt die Distanz zu Schering. Samuels verzichtet bewußt auf eine historische Einbettung seiner Ergebnisse in die Wiener Kultur um 1900 und verweist nur mit einem Fingerzeig auf das Wiener Angst-Syndrom der Zeit. Auch von hier aus ergibt sich also eine Perspektive, die in die Richtung der Interpretationskonstante von der Kriegsvorahnung zeigt. Im übrigen verweist auch Samuels auf die Arbeiten von Schorske.51
51
Samuels, S. 166f.

Die Untersuchungen von McGrath und Schorske, die andere Zugangsweisen zu Mahlers Symphonik neben den formanalytischen aufzeigen wollen, finden einen Widerhall bei dem Dirigenten Hans Zender: »Mir scheint es als Grundfehler der meisten Mahleranalysen, daß man mit aller Anstrengung versucht, doch noch die Sonatenform als background nachzuweisen. Ich behaupte, daß Mahler in allen Symphoniesätzen antisymphonisch ist (auch wenn manche so aussehen als seien sie Sonaten, wie die ersten Sätze der Ersten, Vierten, Sechsten) – die lyrischen und statischen Elemente sind so stark, daß sie sich für das hörende Bewußtsein in den Vordergrund schieben gegenüber allen durchführungsartigen, ›gerichteten‹ Ansätzen.«52

52
Hans Zender, Aufzeichnungen während einer Probenwoche zur Dritten, in: Mahler – eine Herausforderung, hg. von Peter Ruzicka, Wiesbaden 1977, S. 173.
In diesem Zusammenhang sind Überlegungen von Martin Geck zu erwähnen, der das Modell »Sonatensatz« – die Analyse von Sonatensätzen als »Sonatensätze« – für

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