- 118 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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gewesen, die Symphonie in einem Apotheosenfinale ausklingen zu lassen. Der Marschrhythmus in den Pauken ab Takt 754, verbunden mit den hymnischen Klängen der Hörner und der hohen Streicher und Holzbläser läßt ein solches Finale geradezu erwarten. Aber völlig unerwartet tritt in Takt 760 ein a-Moll-Akkord im Fortissimo ein, und der Verlauf nimmt eine ganz andere Wendung. Obwohl kurz später nochmals A-Dur auftritt (Takt 765, 767, 769f.), ist der hymnische Schwung doch gebrochen, was sowohl vom Tempo (»Beruhigend«) als auch von der Dynamik (pp) unterstrichen wird. In Takt 773 führen der Paukenwirbel und der Schlag von Tam-Tam und großer Trommel diese Wendung ins Fatale fort, und das Motto in Takt 783–789 leitet endgültig in die düstere, fahle und gespannte Atmosphäre der Coda über. Oechsle hat darauf hingewiesen, daß die Schlußpassage der Coda ab Takt 790, in der die Posaunen, später auch die Hörner Oktavsprungmotive ausführen, dem Aequale nahestehen. Das sind Totenkompositionen für Posaunen, die im Österreich des 19. Jahrhunderts bei Leichenbegräbnissen und Totengedenken gespielt wurden. Auch Beethoven hat solche Gelegenheitskompositionen geschaffen.135
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Oechsle S. 180; er bezieht sich auf Othmar Wessely, Zur Geschichte des Equals, in: Beethoven-Studien [= Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische klasse, Sitzungsberichte, 270. Band], Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung Band 11, Wien 1970, S. 341–360.
Wenn Mahler dieses Klangmaterial in den Schluß der Sechsten hineinzieht, liegt der Schluß nahe, daß Mahler hier am Ende der Symphonie ebenso den Tod eines oder mehrerer Menschen im Sinn hatte. Die Passage schließt mit dem plötzlich im Fortissimo eintretenden, nun nur noch in Moll erscheinenden Motto.

Das negative Ende der Sechsten ist die bewußte Entscheidung Mahlers, diese als einzige unter seinen Symphonien so zu beschließen, und nicht unumstößlich ein Zwang der strukturellen Entwicklung. Es ist in der wissenschaftlichen Literatur unumstritten, daß es sich bei der Schlußbildung von Mahlers Sechster um ein absolutes Novum in der symphonischen Tradition handelt.136

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Sponheuer, Logik des Zerfalls, S. 351.
Und genau diese Symphonie läßt er in der Katastrophe enden, die in den drei schnellen Sätzen auf weite Strecken von Marsch- und Militäridiomen bestimmt ist, die die Aura des Militärs auf musikalische Weise deformieren und negieren. Die musikalische Gestalt der Sechsten läßt mit den oben genannten Merkmalen die Interpretation zu, daß hier ein Untergang zum Ausdruck gelangt, der primär vom Militär verursacht ist. Diese Sichtweise steht derjenigen entgegen, die in der Form des Finales in erster Linie das Ende der Gattungsgeschichte137
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Oechsle, Strukturen der Katastrophe, S. 181.
festmacht. Sehr wohl läßt sich in diesem »Ende der Gattungsgeschichte« ein weiteres Symbol für das Ende einer Welt erkennen, der Welt des 19. Jahrhunderts, die politisch mit dem Ersten Weltkrieg endete.

Noch eine weitere Beobachtung stützt die Auffassung, daß sich in der Sechsten die Idee von Krieg und Untergang erkennen lasse: 1906, im Jahr der Uraufführung der Sechsten, komponierte Richard Strauss Zwei Militärmärsche op. 57 (siehe folgende Seite), die er »Seiner Majestät Kaiser Wilhelm II. in tiefster Ehrfurcht«138

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Programmbuch der Richard Strauss-Woche in München 1910, S. 59.
widmete. Der zweite ist mit Kriegsmarsch betitelt und mit »Berlin 15. Oktober 1906« datiert. Das ist eine Woche nach der Berliner Erstaufführung von Mahlers

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