- 117 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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17 läßt sich mit den Tönen a-e-h-g-cis als Zwischendominante zu einem in Takt 18 auf drei erwarteten D-Dur verstehen, allerdings tritt entgegen der Erwartung H-Dur mit gleichbleibendem A im Baß, also als Sekundakkord ein, ohne aufgelöst zu werden. Die langen Orgelpunkte in den marschprägenden Bässen dürften für Adornos Epitheta »blind« und »Extreme des kollektiven Zuges« verantwortlich sein, ebenso wie für Redlichs Charakterisierungen »erbarmungslos«, »unerbittlich«, »verbissen«, »fanatisch«: Sie reagieren nicht auf – harmonische – Geschehnisse um sie herum. Zur Verfremdung des Marsches treten ferner die stark chromatische Melodieführung und der Verzicht auf hohe Blechbläser in dieser Passage hinzu. Man kann in dieser Anfangspartie der Symphonie die gleichzeitige Etablierung und Deformation des Marsches als ein Wesensmerkmal erkennen.

Diese Idee der Deformation des Marsches zeigt sich darüber hinaus in der gesamten Symphonie im Motto präsent, das den drei Marschsätzen implantiert ist: es etabliert den Marsch durch den Rhythmus und deformiert ihn durch die von Dur nach Moll gewendete Harmonik, dem gänzlich marschuntypischen Tongeschlecht.

Das »brutale Dazwischenfahren«, das Adorno genannt hat, läßt sich nicht nur an der von ihm angegebenen Ziffer 37 im 1. Satz wahrnehmen. Man kann auch die Stellen im Scherzo so charakterisieren, wo im Verlauf des Satzes auszumachen war, daß eine Ruhephase durch einen plötzlich einsetzenden Marsch abrupt beendet wird. Hierauf läßt sich auch das Epitheton »gewalttätig« beziehen. Überhaupt finden sich Gestaltungsmerkmale des 1. Satzes auch im Scherzo. Da sind zunächst die vorausgehenden Achtelschläge in den Bässen und in der Pauke. Auch hier können sie als »Locke« angesprochen werden. Ferner gibt es Verharrungsmomente: Töne oder kleinste Motive werden inständig wiederholt, wodurch die Empfindung unerbittlicher Starrheit entsteht, die für Adorno das Bedrohliche ausmachen dürften.

Ganz anders als im 1. Satz erscheinen die Marschpartien im Hauptsatz des Finales. Hier gibt es kaum Chromatik, keine Orgelpunkte und Dissonanzen, und hohe Trompeten treten als melodieführende Instrumente hervor (Takt 118ff.). Trotz beibehaltenem Mollgeschlecht erscheint der Marsch hier sehr viel positiver als im Kopfsatz. Der Dur-Charakter des Seitensatzes führt diesen Eindruck fort. Und gerade die spiegelbildliche Anlage des Finales löst nun die Erwartung aus, daß die Positivierung des Marsches sich fortsetzt, daß der Hauptsatz sich in der Reprise nach Dur wendet und die Symphonie sieghaft beschließt. Alles dazu ist vorbereitet. Der Seitensatz, der in der Reprise entsprechend spiegelbildlich vor dem Hauptsatz steht, moduliert von B-Dur in Takt 612 nach A-Dur, so daß nichts naheliegender wäre, als den Hauptsatz in Takt 642 in A-Dur folgen zu lassen. Doch kurz vor dessen Eintritt wendet sich das Tongeschlecht nach a-Moll zurück. Unterstrichen wird diese Trübung dadurch, daß der zweite Thementon nun nicht mehr fis, sondern f ist (Takt 642 in den Bässen, Takt 660 in den Violinen). Hier liegt ein erster bewußter Wendepunkt der Symphonie ins Negative. Unterstrichen wird diese Negativität, indem im nachfolgenden Zwischensatz (Takt 668–727) zweimal in kurzem Abstand das Motto erscheint (Takt 669–670 und 686f.). Doch noch einmal wendet sich das Geschehen zum Positiven, indem die Schlußgruppe der Reprise (Takt 728–772) sich wiederum in A-Dur ereignet und »sich zu hymnisch gelöster Kantabilität sammelt und so eine finale Zone erfüllter Gegenwart schafft«134

134
Oechsle, Strukturen der Katastrophe, S. 172.
. Hier wäre nun eine zweite Möglichkeit

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