- 116 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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und Redlich beschrieben worden. Bei Adorno ist der Marsch blind, gewalttätig und zertrampelnd und gibt die Extreme des kollektiven Zuges wieder, bei Redlich ist er erbarmungslos, unerbittlich, militärisch einherstampfend, verbissen, fanatisch, schwer, kriegerisch und militant.

Ein entscheidender musikalischer Unterschied zum Militärmarsch des 19. Jahrhunderts ist zunächst das Tongeschlecht. Die von Achim Hofer gesammelten und analysierten 132 Märsche aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stehen mit einer Ausnahme alle in Dur; die 114 Geschwindmärsche der Königlich Preußischen Armeemarsch-Sammlung (1817–1839) aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts tragen ohne Ausnahme Dur-Tonarten.133

133
Achim Hofer, Studien zur Geschichte des Militärmarsches, Tutzing 1988, S. 350, 575.
Daraus folgt, daß das Dur-Geschlecht ein unabdingbares Wesensmerkmal des Marsches darstellt. Das Moll-Geschlecht ist dagegen dem langsameren Trauermarsch vorbehalten. Im schnelleren Tempo erscheint es allenfalls in Märschen mit fremdländischem Kolorit, so schon in Mozarts Marcia alla Turca oder in Berlioz Marche hongroise aus La Damnation de Faust. Mahlers Marschepisoden in der Sechsten, die ausnahmslos dem schnellen Marschtypus angehören, stehen entgegen der Marschkonvention ausnahmslos in Moll!

Eine weitere Typik des Militärmarsches ist die Melodieführung durch die hohen Blechbläser. In demjenigen Teil der Sechsten, der am unzweifelhaftesten Marschcharakter trägt, dem Hauptsatz des Kopfsatzes, spielen die Trompeten dagegen eine ganz marginale Rolle. Wenn sie nicht schweigen, treten sie im piano und in tiefer Lage auf. Nur gelegentlich mischen sie sich mit motivischem Material ein (Takt 20–22, 29–30, 46–48). Unterstrichen wird diese dunkle Färbung durch den tiefen a-Moll-Akkord der Hörner, gestützt durch die Bass-Tuba. Mahler entzieht seiner Symphonie somit das typisch Strahlende des Marsches. Ganz anders verfährt er dagegen im Schlußsatz der Siebten, deren Marschpartien ganz vom Trompetenglanz erfüllt sind. Ebenso verhält es sich mit der Marschepisode im Schlußsatz der Zweiten (Takt 220–324): Hier kann selbst die Dies-irae-Motivik der sieghaften Trompetenaura nicht entgegentreten.

Marschuntypisch sind die Orgelpunktbildungen in der gleichen Anfangspartie der Sechsten. Schon in den Einleitungstakten wird Marschklang zu gleicher Zeit etabliert und verfremdet. Für die Etablierung sorgen die gleichmäßigen Viertelschläge (Achtel plus Achtelpause) in den Bässen und in der kleinen Trommel; für die Verfremdung sorgt die harmonische Unklarheit, die sich über den F-Dur-Sextakkord, über G-Dur mit Orgelpunkt A, vorbereitet von der Zwischendominante, bis zum mehrfach auftretenden E-Dur-Septakkord mit Orgelpunkt A erstreckt. Im typischen Marsch erscheint dagegen die Tonika unmißverständlich als erster Akkord im ersten Takt. Hier jedoch ist erst in Takt 5 deutlich a-Moll erreicht. Auch die chromatische Melodieführung der Ersten Violinen vom e’ bis zum a’ ist dem Marsch wesensfremd. Während die viertaktigen Einleitungen von Märschen (s.o.) dazu dienen, die Grundtonart des Marsches eindeutig zu markieren, wird sie bei Mahler verschleiert. Das gleiche Bild zeigt sich in den Takten 13 bis 20: Deutliche Marschgestik in der kleinen Trommel und in den Bässen, wiederum auf dem Orgelpunkt A. Damit reibt sich der verkürzte G-Dur-Septakkord (Takt 15). Verschärft wird die Dissonanzbildung im Folgetakt, wo ein d-e-a-h-f-Akkord erscheint, der als E4-7-9gehört werden kann und sich auf der dritten Zählzeit nach a-Moll wendet. Der Folgetakt


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