- 115 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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der vom Hörnerthema und vom Paukenrhythmus hervorgerufen wird. Ab Takt 761 gelangt der Satz mit der Anweisung »Beruhigend« endgültig in ein gemesseneres Zeitmaß, geht in die immer langsamer werdende Coda über und schließt. Noch zweimal tritt in diese Passage der marschartige Paukenrhythmus des Mottos hinein, zunächst in Takt 783, wo ursprünglich der dritte Hammerschlag angebracht war, und dann im Katastrophenschluß Takt 820f.

Marschcharakteristik läßt sich in der Sechsten Symphonie in allen Sätzen mit Ausnahme des Andante moderato deutlich und verbreitet vernehmen. Sie ist nicht, wie noch im ersten Satz der Dritten, an einzelne Formabschnitte gebunden – dort etwa an das Material des Seitensatzes –, sondern bestimmt den gesamten Gang der drei schnellen Sätzes dieses Werkes.

Grundsätzlich liegt es in der Entscheidung des jeweiligen Dirigenten, inwieweit er das Marschmäßige dieser Symphonie zum Klingen bringt. Man kann es je nach dem eigenen Mahler-Verständnis und der ästhetischen Grundhaltung einerseits stark hervorkehren oder andererseits bis zu einem gewissen Grade in den Hintergrund versetzen. Aber daß diese Symphonie das Potential besitzt, ganz von diesem Marschgestus interpretiert zu werden, haben viele Dirigenten gezeigt, besonders deutlich etwa Georg Solti und Leonard Bernstein. Und es mag an dieser omnipräsenten Marschgrundierung liegen, daß die frühen Mahler-Protagonisten sich diesem Werk nur sehr zögerlich, wie Willem Mengelberg, oder gar nicht, wie Bruno Walter, zuwandten. Sie standen noch zu sehr in der spätromantischen Symphonietradition, in der der ordinäre Marsch – als Repräsentant niederer Musik – in der Königsgattung der Musik um jeden Preis zu vermeiden war.

Nach der Sechsten hat Mahler dem Marsch in seinem Schaffen kaum noch Raum gegeben: In der Siebten gibt es wie schon in früheren Symphonien einen Trauermarsch im Kopfsatz, aber der Trauermarsch war ja bereits von Beethoven als Kunstmusik etabliert worden. Auch der Allegro-Teil des Satzes weist einige marschartige Enklaven auf, aber der Satz kommt insgesamt dem überlieferten symphonischen Klanggepräge erheblich näher als der Kopfsatz der Sechsten. Einige langsame Marschpartien tauchen noch in der ersten Nachtmusik auf, die aber niemals nur annähernd den bedrohlichen Charakter annehmen, von dem weite Partien der Sechsten geprägt sind. Das Gleiche gilt für die Marschpartien im Finale, die in ihrer C-Dur-Welt, ihren strahlenden Trompetenklängen und ihrer Motivik der Sphäre von Wagners Meistersingern nahestehen. Die weiteren Symphonien – die Achte, Neunte und das Lied von der Erde – weisen kaum noch Marschartiges auf; sie sind von den genannten frühen Mahler-Dirigenten wieder erheblich häufiger zur Aufführung gebracht worden.

Der unterschiedliche Charakter zwischen den Marschpartien der Sechsten und Siebten macht auf ein Phänomen aufmerksam, das es im folgenden näher zu untersuchen gilt: Bei aller Marschcharakteristik, die in weiten Teilen der Sechsten Symphonie spürbar ist, entsteht doch nie die Assoziation zum wirklichen Militärmarsch einer preußischen – oder österreichischen – Regimentskapelle. Trotz aller Marschrhythmen scheint Mahler derartige Klangebenen nicht hervorrufen gewollt zu haben. Der Klangeindruck ist niemals stimulierend oder glanzvoll, sondern – im Gegenteil – über weite Strecken deprimierend, schicksalsbeladen und zerstörerisch. Mit entsprechender Begrifflichkeit sind die Marschpartien auch bei Adorno


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