- 109 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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In Siegfried Oechsles Aufsatz zum Finale der Sechsten von 1997 heißt es zum Marsch in diesem Satz: »Das Hauptthema am Beginn der Exposition besitzt unverkennbar Marschcharakter. Pointierte Rhythmen, Trillerketten, Vorschläge und nicht zuletzt grelle Oktavierungen der Piccoloflöten verleihen ihm eine militärische Prägung. [. . . ] Wer dieses Gebilde als tönenden Moloch, als Symbol kriegerischer Zerstörungsmaschinerien apostrophiert, übersieht seine genuin symphonischen Qualitäten. Es fungiert als zentraler Motor des gesamten Satzprozesses und vollbringt eine enorme Arbeitsleistung.«127
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Siegfried Oechsle, Strukturen der Katastrophe. Das Finale der VI. Symphonie Mahlers und die Endzeit der Gattung, in: Mf 50 (1997), S. 168f.
Die »militärische Prägung« wird also auf eine formimmanente Funktion zurückgeführt. Daran läßt sich die Frage anschließen, ob jedwede melodisch-rhythmisch-harmonische Prägung von Themen allein von ihrer Brauchbarkeit im Sonatenprozeß her zu verstehen sein kann. Hier zeigen sich zwei grundsätzlich verschiedene Zugangswege zum Verstehen der Musik. Der eine versucht, Mahlers Umgang mit der Sonatenform nachzuvollziehen und die Stellung des Werkes im Rahmen der Gattungsgeschichte zu ermitteln. Der andere richtet den Blick auf »tönende Symbole« (Redlich) oder »Vokabeln« (Eggebrecht) in der Musik und sucht nach Deutungen. Die Interpretationskonstante basiert auf dem zweiten Weg.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Marschelementen in Mahlers Sechster, wie sie hier in ihren zentralen Ergebnissen dargestellt worden ist, zeigt folgendes Bild:

  1. Der Umfang der Marschpartien wird völlig unterschiedlich ausgemessen. Einige Autoren beschränken sich darauf, das Marschmäßige im Hauptsatz der Exposition und in einem Durchführungsabschnitt des Kopfsatzes beiläufig zu erwähnen, andere sehen fast die ganze Symphonie von Marschelementen geprägt.
  2. Die Aufmerksamkeit, mit der Marschartiges wahrgenommen wird, ist unterschiedlich groß.
  3. Die Deutungen, die dem Vorkommen des Marsches gegeben werden, sind keineswegs einheitlich.

Für alle drei Ergebnisse lassen sich Gründe finden.

  1. Es gibt in der Musikwissenschaft kein eindeutiges Verständnis darüber, woraus sich ein Marsch konstituiert. Die Wesensmerkmale des Marsches sind bisher noch nicht beschrieben oder festgelegt worden. Das zeigt sich am eindeutigsten in den »Marsch«-Artikeln der großen musikwissenschaftlichen Enzyklopädien, des New Grove und der beiden Augaben der MGG. Der Versuch, den Marsch musikalisch zu definieren, wird dort fast gar nicht unternommen. Die Darstellung seiner Geschichte und der Marsch in der Kunstmusik steht stets im Vordergrund der Ausführungen.
  2. Die Aufmerksamkeit für den Marsch ist bei denjenigen Autoren größer, die sich nicht auf die Herausarbeitung von Form und Struktur beschränken, sondern darüber hinaus auch Aussagen über den sogenannten Gehalt der Musik

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