- 107 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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1. Satz festmacht. Er durchziehe den gesamten ersten Motivkomplex von Takt 1 bis 121 – das ist die gesamte Exposition! Nur die Choralintonation Takt 61ff. gehöre nicht dazu. Seine Analyse läuft darauf hinaus, »daß die Variantentechnik die Sonatenhauptsatzform mit ihren charakteristischen Entfaltungsweisen außer Kraft setzt, obwohl (oder gerade weil) deren formales Gerüst noch unablässig im Hintergrund des Satzes erscheint, aber nicht mehr die ›Logik‹ der Form darstellt, nur noch Hülle, Folie ist.« Mahler stehe hier in der Tradition Schuberts, dessen Alternative zur sonatischen Formkonzeption vor allem vom Marsch ausgehe, der Bewegung und Stillstand in eins sei. Seine Exponierung bedeute, den dualistischen Entwicklungsgedanken gleichsam von außen außer Kraft zu setzen. Bei Mahler greifen Marsch und Variantentechnik ineinander; der Marsch schaffe jene Bewegungsintensität, die vormals das Durchführungsverfahren, die motivisch-thematische Arbeit geleistet habe. »Der Marsch wird zur exponierten Bewegungsform von Musik, deren motivisch-thematische Gangart als erschöpft sich erwiesen hat.« Hansen sieht hierin ein Abbild geschichtlicher Entwicklung: »Marsch und Variantentechnik, traditionelle sinfonische Formen durchsetzend, führen zu Absagen an Konzeptionen motivisch-thematischer Entwicklung, die in bürgerlich humanistischer Kunst mit konkreten ideologischen Implikationen verwoben war. Der progressive Inhalt dieser Konzeption wurde von der realen geschichtlichen Bewegung des Bürgertums ausgehöhlt – Antizipation, Abbild von Entwicklung, geriet auf diesem Hintergrund zu neutralistischer Utopie, von der es wiederum nicht weit zum Illusionismus war.«121
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Mathias Hansen, Marsch und Formidee. Analytische Bemerkungen zu sinfonischen Sätzen Schuberts und Mahlers, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 22 (1980), S. 3–23, bes. S. 13f. und 21f.. Als Redaktionsschluß ist der 29.11.1978 vermerkt.
Die Schlußfolgerung bleibt hier – für heutige Leser – etwas kryptisch, die Ausführungen von Hansen sind in der wissenschaftlichen Diskussion nicht auf großes Echo gestoßen. Wie schon vorher, so wurde auch nachher die Sonatenhauptsatzform als zentrale Formkategorie für das Finale der Sechsten proklamiert. In einer späteren Mahler-Publikation hat Hansen einige seiner Gedanken nurmehr andeutend wieder aufgegriffen.122
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Mathias Hansen, Reclams Musikführer Gustav Mahler, Stuttgart 1996, S. 123–139.

Außerordentlich großen Raum widmet Hans-Peter Jülg den Marschidiomen in seiner 1986 erschienenen Dissertation zur Sechsten; an vielen Stellen seiner umfangreichen Analyse weist er auf Marschelemente hin. Die Hauptcharaktere des ersten Satzes seien fast alle Marschtypen. Auch der Seitensatz sei trotz aller Emphase dem Marschcharakter verpflichtet; daß das Seitenthema nicht als Variante des Hauptsatzes, als Marschcharakter rezipiert werde, liege am Gestus der Begleitstimmen und deren überschwenglicher Figuration. Die Marschcharaktere finden, so Jülg, auch in der Durchführung ihre Fortsetzung. Das Scherzo knüpfe trotz seines Dreiachteltaktes am marschmäßigen Charakter des Eröffnungssatzes an, es möchte dessen Marschcharaktere mit aller Wucht fortspinnen. Der Dreiachteltakt führe in der Rezeptionsgeschichte zu einer Verengung der musikalischen Aussagen, da viele Autoren den musikalischen Gehalt nur als Ausdruck des Tanzcharakters und des Scherzoidioms interpretieren. Im Finale enthalte schon die Einleitung Marschidiome. Die erste Gruppe des Hauptthemas (Takt 114–138) lehne sich deutlich an den Marschcharakter an. Danach »wühlen« die Marschrhythmen in den Baßinstrumenten


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