- 105 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Größe verstehen«108
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Erwin Ratz, Gustav Mahler: Symphonie Nr. 6 in a-Moll (1957), in: Ges. Aufsätze . . . , S. 123.
. Grundsätzlich ist die Interpretation der Negativität auf den Schlußverlauf der Symphonie bezogen. »Das Motto ist gleichsam die Signatur des Werkes und seines tragischen Gehaltes.«109
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Ebd. S. 124.
Er leitet aber aus Mahlers Streichung des dritten Hammerschlages in Takt 783 eine positive Wendung ab: »Äußerlich, materiell gesehen, ist das Leben zu Ende. Aber die Seele ist unversehrt, geläutert durch alles Schwere, das sie erlitten.«110
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Ebd. S. 146, ähnlich S. 130.
Bernd Sponheuer kritisiert diese Interpretation zurecht als »Beschwichtigungsversuch, der darauf abzielt, die kritische, zu keinem Kompromiß bereite Haltung der Musik doch noch zum Affirmativen hin umzubiegen«111
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Sponheuer, Logik des Zerfalls, S. 351.
. Ratz kommt außerdem auf den Marsch zu sprechen: »Gerade die Marschrhythmik bei Mahler hat viele Mißverständnisse hervorgerufen, und doch haben wir es hier mit einem jener Symbole zu tun, die Mahlers hellsichtige Genialität besonders eindringlich erkennen lassen. Das Eingeordnetsein in eine überindividuelle Gesetzmäßigkeit«112
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Ratz ebd. S. 123f.
. Der Marsch wird hier also Symbol für etwas Kommendes verstanden, das Mahler voraussieht.

Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Kriegskatastrophen-Deutung am intensivsten und konsequentesten von Redlich begründet worden ist. Nimmt man die musikalischen Momente zusammen, mit denen Adorno, Redlich und Ratz arbeiten, so treten im wesentlichen zwei Elemente hervor: die Präsenz des Marsches und das Katastrophen-Finale. Dagegen spielen die Hammerschläge des Finales bei Redlich und Adorno kaum eine Rolle.

Zunächst ist zu klären, ob sich Marschelemente auch im Scherzo und im Finale ausmachen lassen oder ob diese dem ersten Satz vorbehalten bleiben. Geht man vom Höreindruck aus, so muß ersteres festgestellt werden. Im ersten Satz kann man Marschmäßiges in den Takten 1–60, 91-104, 128–201, 256–340 und 379–486 hören. Eingerechnet der Wiederholung der Exposition nach Takt 127 sind das 67,7% der Takte. Im Scherzo lassen sich Marschelemente in den Takten 1–97, 173–182, 199–230, 239-272 und 371–399 vernehmen, also in insgesamt 203 von 445 Takten; das sind 45,6 %. Im Finale ist eine eindeutige Festlegung vom Höreindruck her am schwierigsten. Grundsätzlich ist es – nicht nur in diesem Satz – auch vom Dirigenten abhängig, wie stark er die Marschelemente hervorkehrt. Im Finale ist das Motto mit seinem markanten Paukenrhythmus mit einbezogen, nicht dagegen aber der Seitensatz, in dem Marschartiges unterschwellig wahrzunehmen ist. Erkennt man in den Takten 9–14 (Motto), 65f. (Motto), 69–190, 216–229, 385–457, 484–519, 530–535 (Motto), 610–728, 752–759, 782–788 (Motto), 820f. (Motto) Marschelemente, so sind das 395 von 822 Takten, was 48 % entspricht.

In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Symphonie in den vergangenen 25 Jahren wurden marschartige Elemente in dem Werk in ganz unterschiedlichem Ausmaß festgestellt. Folglich wurde auch die Frage, wie das Vorkommen oder Vorherrschen des Marschrhythmus zu erklären sei, unterschiedlich beantwortet. Adorno, der für den ersten Satz noch eine weltgeschichtliche Deutung geliefert hatte, verhängte diesbezüglich über das Finale ein »la question ne sera pas posée«, indem er postulierte, daß der Einfall des Finales dessen Formidee sei, nicht die auf


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