- 265 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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Bestandteil der Filmhandlung fungiert. Die möglicherweise vom Zuschauer empfundenen Wirkungen können somit aus der eventuellen Diskrepanz zwischen der subjektiven Wahl der Musik des Regisseurs und der dokumentarischen Sicht der moralischen Wertvorstellungen in den Vereinigten Staaten der Jahrhundertwende einerseits und den persönlichen Reaktionen des Filmbetrachters andererseits resultieren; ein Aspekt, den Malle im obigen Zitat mit ›message et propre profit‹ (›persönliche Botschaft und Nutzen‹) des Rezipienten beschreibt. Malle dramatisiert jedoch nicht, sondern stellt lediglich die damaligen Zustände in einer realistischen Weise dar.

An diesem Beispiel wird der Kerngedanke der Filmklangästhetik Malles deutlich: eine verstärkte aktive Partizipation des Filmbetrachters am Rezeptionsprozess.

Die Unaufdringlichkeit (gerade) der Musik, die Malle in nahezu all seinen Filmen selbständig bestimmt, resultiert vornehmlich aus ihrem dokumentarischen Einsatz. Zumeist wählt der Regisseur Musik aus seinem persönlichen Erfahrungsschatz691

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In vielen Fällen verwendet Louis Malle Jazz als Musik in seinen Filmen, eine Wahl, die seine Affinität zu dieser Musikrichtung widerspiegelt.
, wobei auch die aktuelle Stimmung und Musikpräferenz während der Erstellung des Drehbuchs und des Drehens eine bedeutende Rolle spielt: »When I’ve been successful in using music in my films, it’s always been music that I’ve been listening to while writing the script or shooting the film. So naturally, it entered the picture and became part of its structure.«692
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Malle in Yakir (1978b), S. 10
Die Auswahl und der Einsatz von Musik konstituieren sich demnach bereits in einem sehr frühen Stadium der Filmproduktion. Für Malle stellt die Musik somit eine Erweiterung seiner Inszenierungsarbeit dar.693
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»Quand je fais un film, j’ai souvent déjà l’idée de la musique d’abord que les personnages écouteraient ou joueraient et puis aussi de l’ambiance ou du contrepoint qui me permettra de donner une sorte de tonalité, c’est une sorte de prolongation de mon travail de mise en scène [. . . ]«, zit. n. Le bon plaisir (»Wenn ich einen Film erschaffe, habe ich oftmals schon eine Idee für die Musik, die die Personen hören oder spielen und außerdem auch für die Atmosphäre oder den Kontrapunkt einer Szene, was mir erlaubt, ihr eine Klangfarbe zu verleihen. Es ist eine Art Verlängerung meiner Inszenierungsarbeit.«)
Obwohl der Einsatz und die Wahl der Musik aus persönlich-subjektiven Gründen erfolgt, lässt Malle dem Filmbetrachter durch die weitgehende Vermeidung von Klischees stets einen persönlichen Reflexionsspielraum und nutzt nur selten die suggestive Kraft deutlich beschrifteter (film-) musikalischer Patterns, die bewusst Emotionen auslösen sollen.

Gerade in der Phase des Dokumentarischen Spielfilms wird diese ästhetische Haltung deutlich. Durch den Einsatz im On, durch die Integration in den Handlungskontext und durch den authentischen Einsatz zeitgenössischer Musik wird die Tonspur zu einer Einheit, die dem Filmbetrachter zunächst nicht als bewusst eingesetztes dramaturgisches Element erscheint. Vielmehr enthält sich die Tonspur an dramaturgischen Schlüsselstellen eines eindeutigen Kommentars, der dem Zuschauer eine Bewertung, eine Emotion oder einen Hinweis auf die Intentionen des Regisseurs geben könnte. Der Rezipient soll angeregt werden, sich selbst ein Urteil über den Handlungskontext zu bilden. Diese Freiheit unterstützt die Musik nicht durch ein aktives Eingreifen in den Rezeptionsprozess, sondern vielmehr durch ein passives ›stillschweigendes Vorhandensein‹.


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