Klangbildern à la Hollywood überwältigen will.
Selten setzt Malle in dieser Periode eine klischeehafte Musik ein, deren Wirkung
auf den Filmbetrachter wie ein konditionierter Reiz wirkt. So trägt die Musik
dazu bei, die ästhetischen Prinzipien des cinéma direct in die Spielfilme zu
transportieren und lässt dem Filmbetrachter Raum für eigene Interpretationen
der Handlungsvorgänge. Jean-Claude Laureux beschreibt diesen Aspekt wie
folgt:
»Il y a quand même une constante dans les films de Louis, c’est qu’il y a
une liberté donnée au spectateur, c’est-à-dire vraiment on peut être deux,
voir un film et sortir en ayant vu deux films différents, chacun a vu son
film. Le cinéma de Louis, c’est un cinéma point d’interrogation. Il a toujours
cette constante-là d’un metteur en scène qui n’impose pas son point de vue,
qui ne fait pas une démonstration, qui soulève un problème, qui le traite
comme il peut, mais en tout cas qui ne force pas le spectateur à penser une
chose.«688
»Es gibt trotz allem eine Konstante in den Filmen von Louis. Sie beinhalten
eine Freiheit für den Zuschauer, was heißen soll, dass man zu zweit einen Film
anschauen kann und hinterher zwei verschiedene Filme gesehen hat, wobei
jeder seinen eigenen Film gesehen hat. Das Kino von Louis ist ein Kino des
Fragezeichens. Er ist ein Regisseur, der nie seinen Standpunkt aufdrängt, der
keine Demonstration veranstaltet, sondern der sich mit einem Problem befasst,
dieses nach seiner Art und Weise behandelt, aber auf keinen Fall den Zuschauer
zwingt, in eine bestimmte Richtung zu denken.«, zit. n. Interview mit dem
Verfasser, 4. 4. 2001. Eine von Malle beschriebene Episode in Bezug auf Le
Souffle au coeur belegt diesen Aspekt: »Als der Film anlief, stand ich vor
einem Kino in der Nähe der Champs-Elysées, um zu hören, was die Leute beim
Herauskommen sagen. Ich erinnere mich an zwei Frauen, die ganz offensichtlich
dem Bürgertum angehörten. Sie lächelten selig und schienen sich wirklich gut
zu fühlen. Plötzlich meinte die eine: ›Das war ja furchtbar, was wir gerade
gesehen haben.‹ Dann fingen sie zu streiten an. Die eine sagte: ›Ich fand es
komisch und rührend.‹ Dann: ›Nein, nein, es ist furchtbar.‹ [. . . ] Es hat mir
immer Spaß gemacht, die Menschen zu zwingen, ihre feststehenden Meinungen
zu überdenken.«, zit. n. French (1998), S. 121
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Diesem Zitat entspricht die Haltung Malles in Bezug auf die Anforderungen, die er in
seiner Idealvorstellung von Kino an den Zuschauer stellt:
»Une forme de cinéma qui nécessite donc des spectateurs actifs pour qui le
film devient une courroie de transmission entre ce que le cinéaste, l’équipe
technique ont vu, et ce que le spectateur voit: à chacun, à partir de ce double
élément d’une vision subjective et d’un matériau brut, de tirer son message et
son propre profit.«689
Zit. n. Malle in Braucourt (1974), S 28: »Eine Form des Kinos folglich, die
aktive Zuschauer benötigt, für die der Film zu einem Übermittlungsband wird
zwischen dem, was der Regisseur und die Techniker gesehen haben und dem,
was der Zuschauer sieht: So ist es jedem überlassen, aus diesem doppelten
Element einer subjektiven Sichtweise und einem unbehandelten Material seine
persönliche Botschaft und Nutzen zu ziehen.«
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Dass dieses ›matériau brut‹ »sans mode
d’emploi«690
Ebda. (»ohne Gebrauchsanweisung«)
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in Form von Musik möglicherweise Wirkungen mit sich bringt, die nicht von Malle
intendiert sind, ist am Beispiel von Pretty Baby deutlich geworden, indem die Musik
durch ihren Gestus die eigentliche Perversität der Szenen zu verdrängen vermag. Hierbei
ist jedoch zu beachten, dass die Musik keinesfalls absichtlich übertrieben stark im Off
montiert ist, um einen dramaturgischen Einfluss zu nehmen, sondern als integrativer
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