Oehlmann von einem Ausbruch »aufgestaute[r] Fülle des
Schmerzes«.554
Oftmals wird die unglückliche Affäre des Komponisten mit der 16-jährigen Gräfin
Giulietta Guicciardi, der die Sonate gewidmet ist, mit dem Ausdrucksgehalt vor allem
des ersten und des dritten Satzes in Verbindung gebracht. Im Kontext des Films spielen
derlei Spekulationen keine Rolle; wichtiger ist der Charakter des III. Satzes, welcher in
der Tat den Gestus des Aufbegehrens und einer gewisse Erregung in sich birgt. Es ist
jedoch erneut fraglich, ob France durch die Musik ihre Gefühle mitteilen will. Das
Repetieren einzelner Passagen – sie übt das Stück – klingt zwar, als wolle die
Musik Luciens Verhalten ironisieren und anprangern, dennoch wirkt France
beim Betreten des Salons keineswegs feindselig, sondern vielmehr neugierig in
Bezug auf den Gast, dem sie gegen den Willen ihres Vaters vorgestellt werden
möchte.555
Im Drehbuch wird France an dieser Stelle mit »souriante« beschrieben
(»lächelnd« / »fröhlich«). Vgl. Malle/Modiano (1989), S. 50
|
Ebenso wenig hat es den Anschein, als sei ihr Klavierspiel ein Ausdruck genereller
Verzweiflung über ihre gegenwärtige Situation als Flüchtling.
Take 12 (Beethoven: op. 27, 2 I. Satz): In diesem Take wird endgültig deutlich, dass
Albert Horn in stärkerem Maße als seine Tochter die Klaviermusik mit Gefühlen und
Erinnerungen verbindet. Zu den elegischen Klängen des ersten Satzes der Sonate, mit
denen man durchaus Klage oder Wehmut assoziieren kann, zieht er ein bitteres Resümee
seines Lebens: »Il me semble que j’ai toujours marché au rythme de cette musique-là
. . . «556
Ebda., S. 64 (»Mir scheint, ich habe immer im Rhythmus dieser Musik gelebt.«)
|
Im
Folgenden trauert er der Karriere seiner Tochter als Konzertpianistin hinterher, die aufgrund
den politischen Umständen unmöglich geworden ist. France bittet ihn, »nicht wieder damit
anzufangen«.557
Ebda. (»Tu ne vas pas recommencer, papa . . . «)
|
Offensichtlich spielt sie ihrem resignierten Vater die Musik vor, weil der sich dieses
gewünscht hat. Sie selbst scheint mit ihren Gefühlen weit weniger involviert zu
sein.
In dieser Szene bildet die Musik mit den Bildern eine dichte atmosphärische Einheit.
Die Großmutter und Horn wirken noch lethargischer als in den Szenen zuvor, was mit
dem ruhigen Gestus des Adagios korrespondiert.
Take 21: Anstelle eines zusammenhängenden Stückes erklingen an dieser Stelle einzelne
Motivfetzen, Quartenläufe, Tonleiterübungen. France ist offenbar dabei, ein neues Stück
zu üben. Das Klavierspiel wirkt jedoch ziellos und zerrissen, da sie nahezu kein Motiv
wiederholt. Über dieser Szene lastet schwer die Rivalität zwischen Lucien und Horn, die
sich in einem Machtkampf äußert, als der Schneider, dessen Abneigung Lucien gegenüber
nun offen zu Tage tritt, die Verbindungstür zum Klavierzimmer schließt, Lucien diese
jedoch wieder aufstößt. Die Spannungen klingen erst ab, als Hippolyte Luciens Mutter in
die Wohnung führt.
In einem linearen Vergleich der Klaviertakes fällt auf, dass sich die Stimmung der Stücke wie folgt
ändert:558
Der Praktikabilität halber wurden die einzelnen Ausdruckscharaktere auf 2–3 Attribute
beschränkt.
|
|