- 208 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (207)Nächste Seite (209) Letzte Seite (363)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

friedvolle Charakter korrespondiert mit dem sonnigen Wetter und dem Vogelgezwitscher in der Szene. Auch wenn sich dieser Eindruck im folgenden Segment als trügerisch herausstellen soll – indem das Verhältnis von Horn zu seinem Erpresser Jean-Bernard beschrieben wird – , so beherrscht doch eine relative Idylle das Bild.

Take 7 (Schumann: Carnaval op. 9): Nachdem Horn Luciens Maße genommen hat, wird er das Opfer einer perfiden Machtdemonstration Jean-Bernards. Beiläufig erwähnt dieser, dass das Konzentrationslager für französische Juden in Drancy sei und er das Schutzgeld, welches der jüdische Schneider regelmäßig an ihn zahlt, erhöhen müsse. Als Horn daraufhin leisen Widerstand zeigt, sagt Jean-Bernard in ironischem Ton zu Lucien: »Monsieur est un Juif riche et avare«.551

551
Malle/Modiano (1989), S. 35: »Dieser Herr ist ein reicher und geiziger Jude.«
In diesem Moment erklingt Schumanns Carnaval. Horn, sichtlich verärgert, betritt den Nebenraum und verbietet seiner Tochter zu spielen. Daraufhin wendet sich Jean-Bernard an Horn und erzählt ihm, dass es doppelt so viele Nachtclubs wie 1939 in Paris gibt und fragt ihn, ob er das Leben in der Hauptstadt nicht vermisse.

In diesem kurzen Ausschnitt wird die ganze Tragik des Schneiders deutlich: Er muss sich von einem aufgeblasenen Aristokraten demütigen lassen, der ihm sarkastisch mitteilt, dass der Krieg doch sein Gutes hat. Dass Horn bei dieser Verhöhnung nicht seine Würde verliert, zeugt von einer enormen Selbstbeherrschung. Die Musik wirkt in dieser Szene wie eine Reminiszenz an das Pariser Nachtleben. Der Carnaval ist die akustische Darstellung eines Maskenballs. Aus diesem großen Tanzzyklus erklingen die ersten Takte des Préambule, welche man mit einem ›Aufruf zum Tanze‹ assoziieren könnte. Die Musik, deren Funktion an die ›mémoire affective‹ bei Proust erinnert, beschreibt folglich einen festlichen Anlass, wie er für die Horns in Paris alltäglich war. Die heftige Reaktion des Schneiders in Bezug auf das Klavierspiel in dieser Szene rührt offenbar davon her, dass er sich an seine besseren Pariser Tage erinnert fühlt und schmerzlich erkennen muss, wie tief er gesunken ist. Es kann nicht geklärt werden, ob France dieses Stück bewusst einsetzt – sicher will sie ihren Vater nicht mutwillig kränken – oder ob es lediglich einen weiteren Teil ihres Repertoires darstellt. Dennoch wohnt der Musik in dieser Szene ein gewisses trotziges Element inne, welches im Kontrast zur aktuellen Lebenssituation des Schneiders steht.

Take 11 (Beethoven: op. 27, 2, III. Satz): Der Ausschnitt aus dem dritten Satz erklingt, als Lucien seinen Anzug abholt. Die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Horn und Lucien werden nun offensichtlich. Der Bauernjunge, zunächst noch verunsichert, wird sich jedoch im fortschreitenden Maße seiner Macht bewusst, die nicht zuletzt durch seinen Revolver gekennzeichnet ist, den er immer wieder fasziniert betrachtet.

Der dritte Satz der Sonate op. 27, 2 wird in der Sekundärliteratur als Gefühlsausbruch Beethovens interpretiert. Uhde spricht von »leidenschaftlichste[r] Rebellion«,552

552
Uhde, Jürgen: Beethovens Klaviermusik. Band II. Sonaten 1–15. Stuttgart: Reclam 1970, S. 375
Siegmund-Schulze von »apokalyptische[m] [. . . ] Ausbruch«553
553
Siegmund-Schultze, Walther: »Klaviermusik«. In: o. V.: Konzertführer Ludwig van Beethoven. Leipzig: Dt. Verlag für Musik 1988, S. 254–306, hier S. 270
und

Erste Seite (i) Vorherige Seite (207)Nächste Seite (209) Letzte Seite (363)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 208 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?"