Der 1974 uraufgeführte Film Lacombe Lucien ist der am kontroversesten diskutierte
Spielfilm Louis Malles. Er erschien zu einer Zeit in Frankreich, die von der Wahl Giscard
d’Estaings zum Staatspräsidenten und einer damit verbundenen Abkehr vom Gaullismus
geprägt war. Der französische Gaullismus war traditionell stets eng mit der
Résistance-Bewegung und deren Mythos verbunden. In der Kritik der Cahiers du
Cinéma506
Vgl. Daney, Serge: »Qui dit quoi, mais où et quand?«; Bonitzer, Pascal: »Histoire de
sparadrap«. In: Cahiers du Cinéma 250 (5/74), S. 38–47 und Bonitzer, Pascal/Toubiana,
Serge: »Entretien avec Michel Foucault«. In: Cahiers du Cinéma 251–252 (7–8/74), S. 6–15
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wurde der Film als Beitrag zur ›mode rétro‹ angesehen, einer Ideologie der politischen
Rechten, die in diesem Fall die Moral und den Heroismus der Résistance-Bewegung anfocht:
»Free from the essentialist Gaullist link with resistance [. . . ], the new ideology aggressively
set out to nullify morality in politics by blocking, denying and recoding popular memories of
struggle.«507
Kedward, H. R.: »The anti-carnival of collaboration. Louis Malle’s Lacombe Lucien
(1974)«. In: Hayward, Susan/Vincendeau, Ginette (Hrsg.): French Film: texts and contexts.
London/New York: Routledge 2000, S. 227–239, hier S. 228
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Viele Kritiker, sowohl politisch rechts als auch links stehend, stießen sich daran, dass
Malle die Geschichte eines Kollaborateurs und nicht die eines heldenhaften
Résistance-Kämpfers erzählte, wobei zu Beginn des Films die Entwicklung und der
Ausgang völlig offen sind. Lucien tritt erst dem Kreis der Kollaborateure bei, nachdem
er vom Chef der örtlichen Résistance-Gruppe, dem Lehrer Peyssac abgewiesen wird. Er
hat danach eine Fahrradpanne, so dass er schieben muss und Figeac erst im Dunkeln
erreicht, wodurch er von Aufsehern aufgegriffen wird. Malle selbst hat in mehreren
Stellungnahmen die Vorwürfe zurückgewiesen. Anstelle einer Rehabilitation der
Kollaborateure lag ihm vielmehr daran, das Handeln eines Menschen in bestimmten
Situationen mit all seinen Widersprüchen darzustellen, ohne es jedoch moralisch zu
bewerten.508
Vgl. Louis Malle in Mallecot (1978), S. 49: »[. . . ] j’évitais de porter un jugement sur Lucien, je
préférais montrer le comportement d’un personnage avec toutes ses contradictions, et même,
d’une certaine manière, tenter de le comprendre.« (»Ich vermied es Lucien zu bewerten; ich
zog es vor, das Verhalten einer Person mit all ihren Widersprüchen zu zeigen und in gewisser
Weise sogar zu versuchen, sie zu verstehen.«)
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Die heftigen Polemiken, die der Film in Frankreich hervorrief, sind nur verständlich,
wenn man sich die Brisanz des Themas ›collaboration – résistance‹ vor Augen führt.
Diese Periode in der französischen Geschichte (1940–1944) ist für viele Franzosen immer
noch ein Stück unbewältigte Vergangenheit, zumal die Kollaborateure teilweise mit nicht
gekanntem Fanatismus und Erbarmungslosigkeit gegen die eigenen Landsleute
vorgingen.
Nachdem die deutsche Wehrmacht die französische Armee in einem Blitzkrieg besiegt hatte,
wurde am 22. 6. 1940 ein Waffenstillstand unterzeichnet. Zu dieser Zeit befand sich der bis
dahin noch unbekannte General de Gaulle in London, von wo er die französischen Offiziere
und Soldaten aufforderte, mit ihm Kontakt aufzunehmen und den Widerstand gegen
Deutschland fortzusetzen. Anders als der greise Maréchal Pétain, der das Oberhaupt der
Regierung von Vichy bildete, sah de Gaulle die Entwicklung zum Weltkrieg voraus,
in dem die Alliierten letztendlich durch materielle Überlegenheit den Sieg über
Hitler davontragen würden. Der Appell an seine Landsleute in Frankreich »wollte
ein Aufruf zum geistigen Widerstand, zu einer Haltung des Stolzes und des Mutes
sein«.509
Salentiny, Fernand: Die Geschichte des europäischen Widerstandes gegen Hitler. Der Krieg
im Schatten. Puchheim: IDEA 1985, S. 93
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De Gaulle lehnte die Vichy-Regierung als illegal ab, stieß dabei jedoch auf mangelnde
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