- 190 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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schen Verweis auf die Aktualität der Musik und lässt die Szene um so authentischer wirken.

Der Blues Cosmic Rays erklingt in Segment 21 im On von (offensichtlich der gestohlenen) Schallplatte. Von seiner Mutter ›betrogen‹ (er hat gerade entdeckt, dass sie einen Liebhaber hat), von seinem Vater erniedrigt und ausgeschimpft, schließt sich Laurent in seinem Zimmer ein, legt die Parker-Schallplatte auf, streichelt seinen Kater Joseph und masturbiert zu der Lektüre von J’irai cracher sur vos tombes, jenem Skandalroman von Boris Vian aus dem Jahre 1946. Diese Szene stellt eine Flucht aus der Realität, eine Flucht aus der bürgerlichen Atmosphäre des vom despotischen Vater dominierten Elternhauses dar. Boris Vian,489

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Boris Vian und Charlie Parker kannten sich seinerzeit seht gut. Der Schriftsteller spielte selber in einer Amateur-Jazzband Trompete und arbeitete später in der Jazzabteilung bei Philips.
Charlie Parker und die katholische Sünde Onanie bilden eine feste Einheit, ein rebellisches Bollwerk gegen den spießigen Alltag, der aus Morgenmesse, Schule, Ritualen wie Abendessen und täglichen Anfeindungen des Vaters besteht.490
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Vgl. die Untersuchung zur Funktion und Bedeutung des Jazz in Dollase, Rainer/Rüsenberg, Michael/Stollenwerk, Hans J.: Das Jazzpublikum. Zur Sozialpsychologie einer kulturellen Minderheit. Mainz: Schott 1978, S. 79ff. 75 % der Befragten gaben an, zeitgenössischen Jazz (Charlie Parker ist in diese Kategorie eingeordnet worden) zur Entspannung zu hören und überraschenderweise 56 % zur Ablenkung von Alltagsproblemen. Für Laurent hat die Musik im Film neben der Abgrenzung der Bourgeoisie drei Funktionen: Fluchthilfe aus dem Alltag, Entspannung und eventuell Bildung (wobei allerdings der Bildungseffekt fraglich ist, da er oftmals gleichzeitig ein Buch liest und sich somit nicht voll auf die Musik konzentrieren kann).

Im Verlaufe des Films erklingt Cosmic Rays noch drei weitere Male. Take 10 erklingt während des Geschlechtsverkehrs, den Laurent mit der Prostituierten Freda hat, und endet brüsk mit dem Eingreifen der Brüder. In dieser Szene erlebt Laurent zum ersten Mal das, was er sich bislang nur vorgestellt und von dem er nur in Büchern gelesen hat (vgl. S 21). Die Musik drückt hier nicht nur seine Gefühle aus, sondern bildet ähnlich wie bei Take 4 mit der Handlung eine feste Einheit. Laurent erreicht ein seliges Glücksgefühl, wobei die Musik diesen Eindruck unterstützt, da sie deutlich Bezug zu seinen erotischen Phantasien in Segment 21 nimmt. Nachdem er bereits erste Erfahrungen mit dem Alkohol gemacht und seine erste Zigarre geraucht hat (vgl. S 28–29), lernt er nun auch den Sex kennen und kommt damit seinem Idol Charlie Parker einen Schritt näher.491

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Vgl. Laurents Kommentar über Parkers Exzessivität in Segment 3.
In Segment 78 leidet Laurent darunter, dass seine Mutter ihn für einige Tage mit ihrem Liebhaber verlassen hat. Indem er ihre Unterwäsche ausbreitet, ihr Nachthemd anzieht und sich wie sie schminkt, nimmt er im Geiste ihre Identität an und stellt sich den Sex vor, den sie mit ihrem Liebhaber hat. Somit knüpft die Musik wieder an seine Phantasien in Segment 21 an.

Beim letzten Einsatz des Stückes ist Laurent in die Welt der körperlichen Liebe initiiert worden, der Inzest mit der Mutter geschah unmittelbar vorher. Nachdem sie versucht hat, ihn davon zu überzeugen, dass der Vorfall keine weitreichenden Konsequenzen haben wird, macht er sich auf den Weg, um zum ersten Mal unter ›normalen‹ Umständen mit einer Frau zu schlafen, was ihm anschließend mit Daphné gelingt. Die Musik wirkt in dieser Szene befreiend. Nicht nur der lässig swingende Gestus, sondern auch die musikalische Verbindung mit den Takes 4, 10 und 23 lassen vermuten, dass Laurent den Inzest unbeschadet verkraftet hat.


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