- 188 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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nicht mehr ausdrücklich verbieten, denn schon vorher war sie von achtundneunzig Prozent der Franzosen für dekadent und verrückt erklärt worden.«478

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Völker, Klaus: Boris Vian: Der Prinz von Saint-Germain. Berlin: Wagenbach 1989, S. 13

Haben sich diese Ressentiments in den folgenden Jahren auch abgeschwächt, Jost spricht von einer Swing-Begeisterung,479

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Vgl. Jost (1997)
so mag sich diese Entwicklung in Paris abzeichnen. Dijon ist jedoch nicht mit der pulsierenden Metropole zu vergleichen, so dass die Begeisterung für Jazz geschweige denn Bebop dem alteingesessenen Bürgertum ebenso suspekt vorkommen musste wie die vor den Faschisten geflüchtete Italienerin Carla, Laurents Mutter, die mit sechzehn Jahren Charles Chevalier, Laurents Vater, geheiratet hatte und sichtlich aus der Bourgeoisie heraussticht.

Die oben schon angesprochene Rebellion Laurents manifestiert sich noch deutlicher in Segment 80, in dem er einen Kommentar über die Musik des Tanztees im Sanatorium macht. Diesem Kommentar geht ein hitziges Gespräch mit Hubert voraus, in dem dieser sich darüber auslässt, dass der »salaud de Mendès« Indochina aufgeben wird. Er ist der Ansicht, ein Land ohne Kolonien sei ein verlorenes Land. Laurent, eher pazifistisch eingestellt, nennt Hubert einen Faschisten. Anschließend betreten die beiden den Tanzsaal des Sanatoriums. Zu Walzerklängen der Tanzband wird der Blick auf die gepflegt spießige Teegesellschaft frei: Die Töchter tanzen mit gleichgeschlechtlichen Partnern, während die Mütter sich an Kaffeetischen unterhalten. Von diesem Anblick und der vorherigen Diskussion gereizt, sagt Laurent voller Abscheu: »Je m’en vais. La musique est franchement trop dégueulasse.«480

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»Ich gehe. Die Musik ist echt zum Kotzen.«
Schließlich bleibt er doch, allerdings nur um den Kellner zu provozieren, der ihn darauf aufmerksam gemacht hat, dass das Betreten des Saals ohne Sakko nicht zulässig sei. An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr sich Laurent über seine Musik definiert und die Musik seiner sozialen Schicht ablehnt.481
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Laurent scheint – jedenfalls zunächst – kein Interesse am Tanzen zu haben. Bei der von seinen Brüdern veranstalteten Party in den Segmenten 28–29 schüttelt er auf die Frage, ob er tanzen könne, den Kopf. Und als ihn Hélène in Segment 67 auffordert, seine Jazz-Platten abends zum Tanzen mitzubringen, erwidert er empört, dass es Musik zum Hören, nicht zum Tanzen sei. Er ist sich in dieser Situation also dem musikalischen Anspruch des Bebops wohl bewusst.

Während seines Aufenthalts im Sanatorium zeigen verschiedene Situationen, dass Laurent versucht, sich wie ein Erwachsener zu benehmen. Sowohl das Herumkommandieren des Kellners in Segment 74 als auch die Provokationen in Segment 80 belegen dies. Somit dient das Hören einer bestimmten Musik (Bebop) als Ausdrucksmöglichkeit, um sich von einer Gruppe abzuheben und die Zugehörigkeit zu einer anderen, intellektuellen Erwachsenenwelt zu demonstrieren. Dass die oben angesprochene Rebellion nicht konsequent zu Ende geführt wird, zeigt sich in Segment 85. Die Mutter bringt Laurent in dieser Szene – bezeichnenderweise zum selben Walzer, der schon in Segment 80 erklang – das Tanzen bei; er lässt sich also vom ›diskreten Charme‹ der Bourgeoisie verführen. Am Ball des 14. Juli wendet Laurent schließlich das Gelernte an und scheint auch Spaß daran zu haben.

Charlie Parker Malle montiert insgesamt zwei verschiedene Stücke von Charlie Parker im Film, Kim No. 2 und Cosmic Rays, wobei vom letzteren zwei unterschiedliche Takes verwendet werden. Beide Stücke wurden am 30. Dezember 1952


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