- 187 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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existentielle Unruhe ihrer eigenen Zeit spiegele. Sie fanden zu zeitgemäßeren Jazzformen, und das Schwergewicht des Dixieland verlagerte sich nach England.«474

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Berendt (1981), S. 33 f.

Somit kann davon ausgegangen werden, dass im Jahre 1954 der Bebop den Status einer Intellektuellen-Musik genoss. Auf den Film bezogen stellt sich die Frage, ob Laurent sich durch Konsumieren dieser Musik bewusst den Anschein eines Intellektuellen geben will, oder ob er tatsächlich ein so großes Interesse für künstlerische und philosophische Fragen seiner Zeit bzw. der jüngsten Vergangenheit hegt.475

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Immerhin war in den USA die Bebop-Bewegung 1954 längst vom Cool-Jazz abgelöst, und die philosophische Abhandlung Le mythe de Sysiphe erschien ebenfalls bereits 1942. Dennoch muss man bedenken, dass Laurent im provinziellen Dijon und nicht in der Hauptstadt Paris lebt. Somit könnten diese Inhalte für Laurent durchaus noch aktuell sein.
Es scheint, als sei Laurents Begeisterung für diese Welt, die im Kontrast zu der konventionellen Erziehung eines Sohnes aus bürgerlichem Hause mit katholischer Schulausbildung und Pfadfinderlager steht, tatsächlich ein tiefes inneres Verlangen nach intellektuellen Inhalten.476
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Auch seine Kleidung repräsentiert keinesfalls einen gewollt extravaganten Stil, sondern verdeutlicht vielmehr, dass Laurent immer noch ein Kind ist.
Im Film wird die überdurchschnittliche Intelligenz des 15-jährigen durch den Aspekt der Musik verstärkt. Letztere komplettiert das Bild des geistig frühreifen Jungen, der in literarischer und politischer Bildung seinen Freunden voraus ist.

Laurents musikalischer Geschmack hebt sich von dem seiner Bezugspersonen ab. Dem intellektuellen Bebop zugeneigt, heißen seine musikalischen Idole Charlie Parker und Dizzy Gillespie. Somit steht er in leichtem Kontrast zu seinen Brüdern, die ebenfalls den old style mögen, was in den Segmenten 28–30 deutlich wird, in denen sie auf der bei ihnen stattfindenden Party zu den Klängen Sidney Bechets tanzen. Dennoch unterstützen sie die musikalischen Vorlieben ihres jüngeren Bruders, da sie ihm, als er ans Krankenbett gefesselt ist, eine Dizzy Gillespie-Schallplatte schenken. Auch in Laurents Zimmer erblickt man Poster von Bechet und Louis Armstrong neben einer Schallplatte von Benny Goodman, so dass vermutet werden kann, dass er – zumindest in früherer Zeit – auch Dixieland und Swing gehört hat.

Diese Musik stößt bei seiner Mutter auf Unverständnis und Abneigung. In Segment 81 bezeichnet sie das Stück The Champ von Gillespie als »affreuse musique«.477

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»schreckliche Musik«
Die darauf folgende Reaktion Laurents (er dreht die Lautstärke hoch) ist zwar oberflächlich betrachtet eine Trotzhandlung, dient aber auch als Schlüssel für das Verständnis der unbewussten Rebellionshaltung Laurents in Bezug auf die Erwachsenenwelt. Jazz, und in diesem Fall spielt es keine Rolle, ob es sich um Dixieland oder Bebop handelt, steht im scharfen Gegensatz zu den Musikgewohnheiten der Provinz-Bourgeoisie Anfang der 50er-Jahre. Aufschluss gibt ein Kommentar Klaus Völkers über die Haltung der Franzosen zum Jazz während der Besatzungszeit der Nationalsozialisten:

»Die Begeisterung für Jazz war für diese jungen Leute [Boris Vian und seine Brüder] Widerstandskampf, Bekenntnis zur Musik einer überall unterdrückten Rasse. Die Nazis mußten diese Musik nach der Okkupation in Frankreich


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