- 151 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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an. Prédal sieht somit in dieser Klangästhetik einen Vorteil im Vergleich zum Off-Kommentar: »Le son synchrone amène en tout cas une quantité de renseignements plus importante qu’un commentaire.«362
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Prédal (1989), S. 81 (»Der Synchronton bietet auf alle Fälle eine größere Menge an Informationen und Auskünften als ein Kommentar.«)
So ist es bezeichnend, dass Malles Off-Kommentar zu Beginn der Szene Erklärungen zu den Bildvorgängen gibt und die Stellung des Todes in der indischen Gesellschaft erläutert, auf dem Höhepunkt, dem Gebet und anschließenden Anzünden jedoch verstummt, so dass die Hintergrundgeräusche, Stimmen, entfernter Verkehrslärm und Krähen hörbar werden. Auch Malle sieht diesen Informationswert der Tonspur: »Voilà en quoi le cinéma direct est vraiment passionant: pas besoin de dire les choses, de les expliquer, tout est implicite dans l’image et le son.«363
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»Das ist der Grund, warum das cinéma direct wirklich fesselnd ist: Man braucht die Dinge nicht zu sagen, nicht zu erklären, da alles bereits im Bild und im Ton enthalten ist.«

In manchen Szenen nimmt jene Entdramatisierung von Todesdarstellungen durch den realen akustischen Hintergrund für den Zuschauer befremdliche Züge an: Wenn Malle in den Sterbesälen des ›mouroirs‹ von Schwester Fabienne die Ärmsten und Schwächsten unter der Bevölkerung Kalkuttas filmt, die sich mit letzter Kraft ihr Essen greifen und dazu durch das Fenster Musik aus dem Radio erklingt, Schlager aus indischen Erfolgsfilmen. Doch selbst bei diesem makabren Kontrapunkt364

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Ein Kontrapunkt, der um so makabrer wirkt, wenn man die von Malle im Tagebuch notierten Liedtexte berücksichtigt, die im Film freilich nicht übersetzt werden: »Mein Herz singt, du bist für mich bestimmt, auf dass diese Nacht niemals ende, auf dass mein Herz weitersingt . . . « (Vgl. Malle (1978), S. 119)
schimmert die Normalität, die Profanität des Todes für Inder durch. Auch wenn es den dargestellten Personen elend geht, so scheinen sie nicht darunter zu leiden. Der Interviewpartner in diesem Sterbeheim berichtet, dieses Schicksal selbst gewählt zu haben und mit 20 Jahren von zu Hause fortgezogen zu sein, da das Leben eine Illusion sei.

Der Filmklang trägt demnach in vielen Fällen zur Normalisierung der für den westlichen Filmbetrachter häufig schockierenden und abstoßenden Realität bei. Dabei muss immer wieder hinterfragt werden, wie die Tongestaltung ohne Synchronton bewältigt worden wäre – wohl häufig durch externe, mitunter dramatisierende Musik. Erst bei Vergleich mit diesen möglichen Alternativlösungen wird der hohe dokumentarische Wert und die Ästhetik Malles deutlich.

Der Off-Kommentar Ein wesentliches Element der auditiven Schicht in den Dokumentarfilmen über Indien konstituiert der Off-Kommentar. Während er sich in Calcutta schrittweise quantitativ steigert (die ersten 14 Minuten bestehen ausschließlich aus Geräuschen und Musik), bestimmt er in L’Inde fantôme von Beginn des Filmes an die Tonspur. Malle verhält sich im Kommentar sehr zurückhaltend, er gibt teilweise Informationen über ökonomische oder politische Daten Indiens, schildert jedoch vor allem seine persönlichen Eindrücke, seine Gefühle in Bezug auf das Gesehene, um dem Filmbetrachter die erlebte Wirkung zu vermitteln: »Die Dominanz des ständigen Voice-Over-Kommentars stammt wohl aus der Diskrepanz, die Erfahrungen des Gesehenen im durch die Kamera sichtbar Gemachten wiedererkennen zu wollen.«365

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Koch (1985), S. 88 f.

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