an. Prédal
sieht somit in dieser Klangästhetik einen Vorteil im Vergleich zum Off-Kommentar: »Le
son synchrone amène en tout cas une quantité de renseignements plus importante qu’un
commentaire.«362
Prédal (1989), S. 81 (»Der Synchronton bietet auf alle Fälle eine größere Menge an
Informationen und Auskünften als ein Kommentar.«)
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So ist es bezeichnend, dass Malles Off-Kommentar zu Beginn der Szene Erklärungen zu
den Bildvorgängen gibt und die Stellung des Todes in der indischen Gesellschaft
erläutert, auf dem Höhepunkt, dem Gebet und anschließenden Anzünden jedoch
verstummt, so dass die Hintergrundgeräusche, Stimmen, entfernter Verkehrslärm
und Krähen hörbar werden. Auch Malle sieht diesen Informationswert der
Tonspur: »Voilà en quoi le cinéma direct est vraiment passionant: pas besoin
de dire les choses, de les expliquer, tout est implicite dans l’image et le
son.«363
»Das ist der Grund, warum das cinéma direct wirklich fesselnd ist: Man braucht die Dinge
nicht zu sagen, nicht zu erklären, da alles bereits im Bild und im Ton enthalten ist.«
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In manchen Szenen nimmt jene Entdramatisierung von Todesdarstellungen durch
den realen akustischen Hintergrund für den Zuschauer befremdliche Züge an:
Wenn Malle in den Sterbesälen des ›mouroirs‹ von Schwester Fabienne die
Ärmsten und Schwächsten unter der Bevölkerung Kalkuttas filmt, die sich mit
letzter Kraft ihr Essen greifen und dazu durch das Fenster Musik aus dem Radio
erklingt, Schlager aus indischen Erfolgsfilmen. Doch selbst bei diesem makabren
Kontrapunkt364
Ein Kontrapunkt, der um so makabrer wirkt, wenn man die von Malle im Tagebuch
notierten Liedtexte berücksichtigt, die im Film freilich nicht übersetzt werden: »Mein Herz
singt, du bist für mich bestimmt, auf dass diese Nacht niemals ende, auf dass mein Herz
weitersingt . . . « (Vgl. Malle (1978), S. 119)
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schimmert die Normalität, die Profanität des Todes für Inder durch. Auch wenn es den
dargestellten Personen elend geht, so scheinen sie nicht darunter zu leiden. Der
Interviewpartner in diesem Sterbeheim berichtet, dieses Schicksal selbst gewählt zu
haben und mit 20 Jahren von zu Hause fortgezogen zu sein, da das Leben eine Illusion
sei.
Der Filmklang trägt demnach in vielen Fällen zur Normalisierung der für den
westlichen Filmbetrachter häufig schockierenden und abstoßenden Realität bei. Dabei
muss immer wieder hinterfragt werden, wie die Tongestaltung ohne Synchronton
bewältigt worden wäre – wohl häufig durch externe, mitunter dramatisierende
Musik. Erst bei Vergleich mit diesen möglichen Alternativlösungen wird der hohe
dokumentarische Wert und die Ästhetik Malles deutlich.
Der Off-Kommentar Ein wesentliches Element der auditiven Schicht in den
Dokumentarfilmen über Indien konstituiert der Off-Kommentar. Während er sich in
Calcutta schrittweise quantitativ steigert (die ersten 14 Minuten bestehen ausschließlich
aus Geräuschen und Musik), bestimmt er in L’Inde fantôme von Beginn des Filmes an
die Tonspur. Malle verhält sich im Kommentar sehr zurückhaltend, er gibt teilweise
Informationen über ökonomische oder politische Daten Indiens, schildert jedoch vor
allem seine persönlichen Eindrücke, seine Gefühle in Bezug auf das Gesehene, um dem
Filmbetrachter die erlebte Wirkung zu vermitteln: »Die Dominanz des ständigen
Voice-Over-Kommentars stammt wohl aus der Diskrepanz, die Erfahrungen
des Gesehenen im durch die Kamera sichtbar Gemachten wiedererkennen zu
wollen.«365
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