- 148 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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die Menge eintaucht (repräsentiert durch die verschiedenen Gesichter) und auf der Tonebene den indischen Klängen direkt ›ausgeliefert‹ ist. Parallelen zu Traumsequenzen werden deutlich: Da keine Geräusche montiert sind, bleibt die Musik der einzige akustische Anhaltspunkt, der die Aufmerksamkeit auf die Gesichter lenkt. Es sei eine Stelle aus Louis Malles Tagebuch der Reise zitiert, in der er einen tranceartigen Zustand bei einem Tempelfest in Madras beschreibt. Das beschriebene Gefühl kann in Ansätzen auf die intendierte Wirkung des Vorspanns übertragen werden:

»[...] nous sommes entrés dans la foule, tournant bobine après bobine, bousculés avec eux, arrosés avec eux, heureux avec eux. Un moment j’ai cru oublier qui j’étais: je faisais partie d’autre chose, je m’y intégrais, je m’y perdais corps et âme.«355

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Malle (1978), S. 137. (»[. . . ] wir haben uns in die Menge begeben, eine Filmrolle nach der anderen gedreht, wir wurden mit ihnen angerempelt, mit ihnen nassgespritzt, wir waren glücklich mit ihnen. In einem Moment glaubte ich zu vergessen, wer ich war: Ich wurde ein Teil von etwas anderem, ich integrierte mich, ich verlor meinen Körper und meinen Geist.«)

Malle überträgt somit durch die Musik und die Klanggestaltung seine innere Realität auf den Zuschauer; er lässt diesen an seinen Gefühlen teilnehmen.

L’Inde fantôme(I) La caméra impossible (0:28:24–0:31:08)In diesem zweiten Beispiel umspannt die gleiche Musik drei verschiedene Segmente. Sie beginnt bei einer Hochzeit. Es ist nicht zu klären, ob die Musik dem Bild entstammt und die feierlichen Hochzeitsrituale begleitet oder ob sie extern montiert ist. Wie bereits im Vorspann sind auch hier die Geräusche ausgeblendet. Die Musik wird im nächsten Segment fortgesetzt, in welchem Louis Malle ein Pärchen in Bombay zeigt, das miteinander flirtet; laut Off-Kommentar des Regisseurs war es das einzige Mal, dass er eine derartige Szene gesehen hat. Es folgt im Off-Kommentar eine allgemeine Reflexion über die Liebe und Partnerschaft in Indien, während ein neues Segment beginnt, in welchem Frauen und Mädchen über eine Mauer klettern, ein Vorgang, der nicht näher erklärt wird. Während all dieser Szenen bleibt die Musik bestehen. Abgesehen davon, dass die Aufnahmen zu verschiedenen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten entstanden sind, bleibt auch die Hörperspektive, nach Michel Chions Terminologie der point d’écoute,356

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Vgl. Chion (1985), S. 51 ff.
gleich, so dass die Musik zumindest in den beiden folgenden Segmenten nicht vom Bild stammen kann. Die Musik sorgt in diesem Fall für den inhaltlichen Zusammenhang der Segmente, in denen es um die Eigenarten und Zwänge der indischen Partnerfindung und Partnerschaften geht. Damit erfüllt sie formal eine ähnliche Funktion wie der Off-Kommentar. Es ist zu vermuten, dass Malle die Musik als konstantes Element gewählt hat, um nicht durch Geräusche von der Bedeutung und der Wichtigkeit des Off-Kommentars abzulenken. Da die Erläuterungen Malles an dieser Stelle von allgemeiner Art sind und eine für das Verständnis der indischen Gesellschaft elementare Bedeutung haben, nutzt er die Musik, um einen gleichbleibenden Hintergrund zu kreieren, vor dem sich seine Gedanken abheben.

Auch an einigen weiteren Stellen verfolgt Malle dasselbe Prinzip: Er eliminiert die Geräusche, um eine Fusion des Off-Kommentars mit den Bildern vor einem


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