- 32 -Enders, Bernd (Hrsg.): KlangArt-Kongreß 1993: Neue Musiktechnologie II 
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Frage: Hat der Film vielleicht eine ähnliche Rolle gespielt?

Zunächst ganz sicher nicht. Stummfilmmusik wurde in 99 von 100 Fällen aus präexistenten Stücken kompiliert; die ersten Komponisten aber, die Originalmusik beisteuerten, Saint-Saëns, Mascagni, hielten an der Tonalität noch fest, hatten logistische Hilfe demzufolge nicht nötig; und von den Autoren aus dem Umkreis der neuen Musik, die in den zwanziger Jahren zum Film stießen, Hindemith, Honegger, Satie, Schostakowitsch, kann man bei aller Achtung vor den dramaturgischen Meriten ihrer Beiträge nicht behaupten, sie hätten die Chance zu immanent-musikalischer Recherche genutzt. Mit dem um 1930 vollzogenen Übergang zum Tonfilm, der Hollywood auf zwei/drei Jahrzehnte hinaus die absolute Herrschaft in Filmdingen sicherte, substituierte sich allenthalben der kompilatorischen Begleitpraxis die Komposition; komponiert aber wurde in einem pseudo-spätromantischen Idiom, das weder von Schönberg noch von Strawinsky etwas wußte. Wer aus dem Lager der neuen Musik nach Hollywood kam und im Filmgeschäft Fuß fassen wollte, mußte sich diesem Idiom anpassen, wie George Antheil, oder er scheiterte, wie Ernst Toch, und daß die amerikanischen Spielfilmsätze von Hanns Eisler valable Alternativen angeboten hätten, ist, soweit ich sehe, eine Legende.

Erst sehr viel später, in den sechzigern, nach der Auflösung der Studios, nach dem Bankrott der stilistischen Normen, die die Studioproduktion festgeschrieben hatte, bezeugen vorwiegend amerikanische Komponisten, die Arbeit für den Film gebe ihnen die Möglichkeit, neue musikalische Materialien und Verfahrensweisen auszuprobieren und ihre Stichhaltigkeit, ihr Potential unverzüglich, nicht erst nach Monaten oder Jahren, zu testen. Wobei es sich bei den Filmen, die dergleichen zuließen, meist nicht um A-Pictures, um Filme erster Güte handelte, sondern um billige Horrorstreifen, in denen die massive Präsenz von Musik über die Stimmungsmache hinaus mit dazu dienen sollte, Geräusch-Effekte einzusparen. Was da an musikalisch Neuem ausprobiert wurde, orientierte sich denn auch mehrheitlich an den ins Geräuschhafte vorgetriebenen Klangfarben-Arrangements der Polen, insbesondere des frühen Penderecki, die damals freilich nicht nur unter Klassizismus-geschädigten Absolventen US-amerikanischer Akademien als aktuell und irgendwie befreiend eingeschätzt wurden.

Warum verweile ich vergleichsweise lange bei diesem doch eher marginalen Aspekt? Weil hier sich abzuzeichnen beginnt, wie komplex die Frage determiniert ist, wann, wo und wie Medien und mediale Technologien als Quellen der Inspiration für Musiker und Musik fruchtbar werden können. Sie läßt sich offenbar weder einseitig vom Stand der Musikgeschichte, der musikalischen Produktionsgeschichte, noch einseitig vom Stand der Medien- und/oder Technologiegeschichte her beantworten, und schon gar nicht an auktorialem Gespür, Talent und gutem Willen festmachen. Voraussetzung scheint vielmehr zu sein, daß zu einem gegebenen Moment mediale Interessen, technologische Trends und produktionsgeschichtliche Tendenzen in mindestens einem Punkt zusammenfallen, und daß in diesem Moment Autoren da sind, die die


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