- 250 -Enders, Bernd (Hrsg.): KlangArt-Kongreß 1993: Neue Musiktechnologie II 
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erste Zeitintervall länger als das zweite ("accelerando") und das vierte länger als das dritte ("ritardando") ist. Die interpretationsanalytische Forschung hat gezeigt, daß die Tempostruktur von klassischer Musik häufig ausgeprägt bogenstrukturiert ist, im Rahmen einer auf einzelne Phrasen und bis zu fünf metrische Schichten bezogenen Betrachtungsweise sogar nicht selten vollständig bogenstrukturiert.

Eine vollständig binär-hierarchische Tempostruktur kann man erzeugen, indem man für die höchste metrische Schicht ein Zeitintervall vorgibt, das Anfang und Ende des Stücks bezeichnet, und sich dann jede nächstniedrigere Schicht dadurch ergibt, daß man jedes bereits vorgegebene Zeitintervall in zwei Teile teilt. Diese Teile müssen nicht gleich lang sein, sind aber bei klassischen Tempostrukturen in der Regel ungefähr gleich lang. (Welche Abweichung hierbei toleriert wird, ist von der musikalischen Gattung und dem Interpretationsstil abhängig; jedenfalls liegt die Grenze spätestens dort, wo für den Hörer sonst der Eindruck gleicher metrischer Werte verloren geht. Diese Grenze wird von der im folgenden beschriebenen Zeitstruktur allerdings überschritten.)

Auf diese Art erzeugen wir nun folgende Tempostruktur: Die gesamte Zeit der Komposition stellen wir durch die Zahlenstrecke von 0 bis 1 dar, so daß die höchste metrische Schicht genau das Zeitintervall von 0 bis 1 umfaßt. Jede nächstniedrigere Schicht wird errechnet, indem jedes vorgegebene Zeitintervall durch den Zeitpunkt dargestellt wird, der als rationale Zahl mit minimalem Nenner darstellbar ist. (Diese Auswahl ist eindeutig.) So lauten die Zeitwerte für die zweithöchste Schicht 0 - 1/2 - 1, für die nächstniedrigere Schicht 0 - 1/3 - 1/2 - 2/3 - 1, dann 0 - 1/4 - 1/3 - 2/5 - 1/2 - 3/5 - 2/3 - 3/4 - 1 usw. Es läßt sich beweisen, daß die korrekte Unterteilung zwischen zwei aufeinanderfolgenden Werten a/b und c/d stets durch die Zahl (a+c)/(b+d) gegeben ist, falls man 0 als 0/1 und 1 als 1/1 und alle anderen rationalen Zahlen als gekürzte Brüche darstellt.

Diese "Struktur der rationalen Zahlen" (denn selbstverständlich kommen bei unendlicher Fortsetzung dieser Teilungsweise sämtliche rationalen Zahlen zwischen 0 und 1 vor) wird in meiner Komposition so umgesetzt, daß für jede metrische Schicht eine Stimme eingesetzt wird, so daß (von der höchsten metrischen Schicht gesehen) die erste Stimme einen Ton, die zweite zwei Töne, die dritte vier, die vierte acht usw. enthält. Durch diese Stimmzuweisung bleibt die Kontinuität der metrischen Ebenen erkennbar, obwohl die einzelnen Zeitwerte sehr ungleich sind. Die Teilung kann bis zur 9. Schicht fortgesetzt werden.      

Das Prinzip der Tonhöhenorganisation, das ebenfalls streng mathematisch ist (worauf ich hier aber nichteingehe) bringt es mit sich, daß für eine weitere Teilung der Umfang des Klaviers nicht ausreicht.


Diese Tempostruktur hat mehrere interessante Eigenschaften, die hier nur genannt, nicht aber bewiesen sein sollen:


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