- 122 -Enders, Bernd (Hrsg.): KlangArt-Kongreß 1993: Neue Musiktechnologie II 
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Nach Nattiez (1987, S. 255) lassen sich diese 32 verschiedenen Interpretationen auf drei große Klassen zurückführen: Interpretationen im Generalbaß, funktionale Analysen und nicht-funktionale Betrachtungen.

Es stellt sich allerdings die Frage, warum der Hörer nicht in der Weise hört, wie sie beispielsweise von Jadassohn (nach Nattiez 1987, S. 258; vgl. auch Vogel 1962, S. 24-25) in seiner Generalbaßanalyse vorgestellt wurde bzw. was die Priorität anderer Interpretationen gegenüber dieser begründet. In der Interpretation wird dem Zusammenklang f-h-gis-dis eigenständige akkordische Bedeutung zugesprochen. Der Zusammenklang f-h-gis-dis wird durch enharmonische Umdeutung des f als Septakkord eis-gis-h-d (vgl. f-gis-h-dis) der VII. Stufe von fis-Moll verstanden, wobei ein imaginäres d eingeführt wird. Das dis wird erst auf der 6. Zählzeit eingeführt, indem der durch das a entstehende Zusammenklang (f-a-h-dis) als Umkehrung des Septakkordes (h-dis-f-a) auf der II. Stufe in a-Moll aufgefaßt wird. Der folgende Akkord wird als VII. Stufe von H-Dur interpretiert (ais-cisis-e-gis), um dann als Septakkord (e-gis-h-d) der V. Stufe von a-Moll zu enden. Innerhalb zweier Takte werden die Tonalitäten fis-Moll, a-Moll, H-Dur und a-Moll durchschritten, und es wird ein imaginäres d eingeführt.

Wie zu erkennen, durchwandert der Hörer bei dieser Interpretation theoretisch verschiedene Tonarten, obwohl er andererseits bei anderen Interpretationen einen festen tonalen Bezugspunkt hat. Aber auch bei einem tonalen Bezugspunkt, wie er bei den funktionale Analysen wesentlich ist, kommt es innerhalb gleicher theoretischer Ansätze zu unterschiedlichen Interpretationen. So werden die zwei "Akkorde" von Takt zwei und drei bei Arend-Riemann (vgl. Vogel 1962, S. 31-32) als eine funktional-harmonische Wendung S-D bezogen auf a-Moll betrachtet. Schreyer hingegen sieht in ihnen eine Folge D-T bezogen auf E-Dur.

Dem unbefangenen Leser bzw. Hörer dürfte inzwischen schwindelig geworden sein anläßlich der Erkenntnis, zu welchen perzeptuellen Leistungen er theoretisch fähig sein müßte, um den Beginn des Tristanvorspiels angemessen aufzufassen. Glaubt er den musikwissenschaftlichen Darstellungen, so ist er in der Lage, einen Akkord zugleich als Akkord und Nicht-Akkord zu hören, diesen Akkord sowohl dominantisch als auch subdominantisch aufzufassen, verschiedene Tonarten zu durchlaufen und/oder zu guter Letzt eine Wendung bezogen auf a-Moll mit Subdominate-Dominante und eine Wendung Dominante-Tonika bezogen auf E-Dur zu hören.

Auf die Darstellung der nicht-funktionale Analysen kann an dieser Stelle nicht verzichtet werden, denn schon die bisher aufgezeigten widersprüchlichen Sachverhalte lassen Jean-Jacques Nattiez 1987 (Nattiez 1987, S. 249) Martin Vogel zitierend konstatieren, daß die Methoden und Begriffe der Musiktheorie äußerst fragwürdig sind.

Martin Vogel (1962, S. 83) stellte schon 25 Jahre zuvor fest: Die kritische Lage der Musiktheorie erfordert eine entsprechend kritische Einstellung gegenüber ihren Methoden und Begriffen. Musiktheorie ist heute ein Gebiet, auf dem jeder glaubt, ungestraft und unkontrolliert seine Meinung zum besten geben zu können. Die Situation ist schon dadurch so schwierig, daß sich der Theoretiker, der sich in die Enge


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