- 121 -Enders, Bernd (Hrsg.): KlangArt-Kongreß 1993: Neue Musiktechnologie II 
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Das zentrale Problem des zweiten Taktes, an dem sich die Interpretation entscheidet, ist, ob der Zusammenklang f-h-dis-gis als eigenständiger Akkord mit folgender Durchgangsnote a auf dem sechsten Achtel aufgefaßt bzw. gehört wird, oder ob es sich um den Akkord f-h-dis-a mit gis als einer freien Vorhaltsbildung handelt.

Was wird gehört? Wird ein Zusammenklang, ein Akkord oder beides gehört?

Folgende Argumente werden angeführt, um den Zusammenklang f-h-dis-gis als Akkord aufzufassen, in dem das gis als eigenständiger Akkordton integriert ist:


1)     Bei dem rhythmisch-metrischen oder perzeptuellen Argument wird festgestellt, daß die           Dauer des Tones gis mit fünf Achteln viel zu lang ist, um noch als Vorhalt wirken zu           können.

2)     Weiterhin bleibt dieser Ton in einer Instrumentengruppe unaufgelöst.

3)     Das dem Akkord zugrundeliegende Intervallgefüge (die kleine Terz f-gis/as, die           verminderte Quinte f-h/ces und die kleine Septime f-dis/es) erlangt nach Ernst Kurth           (1920, S. 65; zitiert nach Breig 1967) Bedeutung als erstes und umfassendstes           Leitmotiv des ganzen Musikdramas.


Wird jedoch f-h-dis-a als Akkord aufgefaßt, das gis des Zusammenklanges f-h-dis-gis als Vorhalt verstanden, so werden im allgemeinen die zwei schon angeführten Interpretationen unterschieden: Einerseits gibt es die dominantische Interpretation, in der der Akkord f-h-dis-a als Umkehrung des Doppeldominant-Septakkordes (h-dis-fis-a) "gehört" wird, dessen Quinte fis allerdings zum f tiefalteriert ist. Andererseits gibt es die subdominantische Interpretation, bei der f-h-dis-a als Subdominante mit sixte ajoutée (d-f-a-h) aufgefaßt wird, deren Grundton d allerdings hochalteriert wurde. Vom Hörer wird nicht nur erwartet, legt man die Interpretation des f-h-dis-a als Akkord zugrunde, daß dieses Gebilde gleichzeitig als subdominantisch und dominantisch gehört wird, sondern, folgt man Werner Breig (1967), wird weiterhin vom Hörer erwartet, da leitmotivische Bedeutung und funktionaler Zusammenhang zwei verschiedene Arten des Hörens [sic!] und Analysierens erfordern, daß er in der Lage ist, auf folgende Art und Weise zu hören: nämlich den unabgeleiteten Akkord und die durch Vorhalt und Alteration modifizierte Darstellung einer einfachen Funktion.

Es scheint, als wenn dem Hören - glaubt man diesen Erläuterungen - keine perzeptuellen Grenzen gesetzt wären. Aber damit nicht genug, warum sollte der Hörer gerade gemäß dieser Interpretationen hören? Was zeichnet sie gegenüber den anderen möglichen aus?

Jean-Jacques Nattiez (1987, S. 256-258) gibt eine tabellarische Synopsis mit 32 größtenteils verschiedenen Interpretationen der ersten drei Takte des Tristanvorspiels, die in bezug auf vier Parameter betrachtet werden:

1)     Es wird der Status des gis betrachtet (Vorhalt oder eigenständiger Akkordton).

2)     Die Struktur des Zusammenklanges spielt eine Rolle.

3)     Die funktionale Interpretation wird berücksichtigt.

4)     Die von den einzelnen Interpretationen angegebene Tonalität wird betrachtet.


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