- 119 -Enders, Bernd (Hrsg.): KlangArt-Kongreß 1993: Neue Musiktechnologie II 
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Kognitive musikwissenschaftliche Forschung ist jedoch empirische Forschung, deren Ziel die Erklärung und Beschreibung kognitiver Prozesse und Strukturen der Musikperzeption ist, so daß empirisch-psychologische und musiktheoretische Untersuchungergebnisse bei der Bewertung und Auswahl der Konzeptualisierungen für die Simulation kognitiver Prozesse herangezogen werden müssen. Hier ist die Schnittstelle der Computersimulation der KI, der musiktheoretischen Begriffsbildung und der experimentell-psychologischen Forschung. Dies ist der entscheidende Bereich, in dem Musikwissenschaftler, Wissensingenieure und Psychologen zusammenarbeiten.

Abschließend möchte ich nun einige Überlegungen anschließen, die die Notwendigkeit aufzeigen, psychologische und musiktheoretische Überlegungen schon bei der Konzeptualisierung einzubeziehen, wenn die Computersimulation kognitiver Prozesse in der musiktheoretischen Forschung als Hilfsmittels fruchtbar eingesetzt werden soll. Warum sollte überhaupt eine bewußte Konzeptualisierung erfolgen? Die Notwendigkeit der expliziten Konzeptualisierung und Begriffsexplikation soll an einem bekannten Beispiel der Musiktheorie kenntlich gemacht werden: dem Tristan-Akkord.



6. Der Tristan-Akkord


Die Interpretation des Tristan-Akkordes innerhalb der traditionellen Musiktheorie kann in Analogie zu Kants Diktum vom Skandal der Philosophie als "Skandal der Musikwissenschaft" bezeichnet werden. Ohne daß seine Interpretation bisher auch nur annähernd geklärt wurde, wird er zur Stützung übergeordneter musikgeschichtlicher Interpretationen herangezogen. Beispielsweise ist im Schülerduden Die Musik (1989, S. 405) folgendes zu lesen:


Er [der Tristan-Akkord] kann funktional von a-moll her als Doppeldominate (h-dis-fis-a) auf der tiefalterierten Quinte (fis-f) erklärt werden, doch sind auch andere (z. B. subdominantische) Deutungen möglich. Seine Mehrdeutigkeit bei stärkster Strebewirkung (der sonst dissonante Dominantseptakkord (e-gis-h-d) in Takt drei wirkt nach ihm als Auflösung!; seine vielen unterschiedlichen Weiterführungen im Laufe der Oper sowie seine Einbettung in einen hochgespannten chromatischen Alterationsstil machen den Tristan-Akkord zum Zentralisations- und Krisenpunkt romantischer Harmonik, die seitdem an Bindekraft und eindeutiger Beziehung zu einer herrschenden Tonika mehr und mehr verliert bis hin zu endgültigem Umschlag in die freie Atonalität um 1910.


Eine solche teleologische Interpretation der musikgeschichtlichen Entwicklung entbehrt bisher jedweder musiktheoretischer Basis; und die Krise der Harmonik erweist sich in Wahrheit als eine Krise der Musiktheorie, ihrer Begriffe und Methoden; wie


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