Alternative getroffen. Zu sehen im
Bild ist immer nur die eine oder andere Möglichkeit. Dabei ist das in dem ein
wie anderen Falle Ausgeschlossene zugleich aber eingeschlossen, da sich beide
identifizierten Gestaltwelten der gleichen rauschenden Materialwelt bedienen und
diese sich nur jeweils im Moment anders qualifiziert darstellt. Erkennen ist
somit immer das Ergebnis einer Handlung. Wenn der Beobachter mit Blick
auf das Bild sich bspw. für die Gestalt
junge Frau entschieden hat, werden
alle weiteren Beobachtungen (kleine Nase, zierliches Ohr etc.) die Information
junge Frau zu bestätigen suchen und so die erkannte Gestalt
beweisen wollen.
Solange das funktioniert, besteht überhaupt kein Grund an der Erstinformation
zu zweifeln. So wird die Anfangsunterscheidung durch alle Folgeoperationen
durchdekliniert. Der Beobachter ist praktisch
blind für die Möglichkeit
alte Frau, da
ja jeder weitere erbrachte Beweis die unterschiedene Information
junge Frau
bestätigt, sodass mit Niklas Luhmann zu sagen ist: „Beobachten benutzt die
eigene Unterscheidung als seinen blinden Fleck. Es kann nur sehen, was es mit
dieser Unterscheidung sehen kann. Es kann nicht sehen, was es nicht sehen
kann.“
19
- Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Ffm 1992, S. 85
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Mit der Wahl der Unterscheidung ist der beobachtete Gegenstand schon im Vorfeld einer
Beobachtung notwendigerweise bezeichnet und Erkenntnis eine aus dem Kontext der
Unterscheidung abgeleitete, also eine vom Unterscheidungen treffenden Beobachter
vorgegebene.
20
- Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Ffm 41993, S. 596f.
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Eine andere Unterscheidung/Bezeichnung ergibt zwangsläufig eine andere Beobachtung
und Erkenntnis. Je genauer nun beobachtet werden soll, um so stärker wird
die Welt nach den Informationen selektiert, die der Beobachter in der Welt
erkennt, indem er sie durch seine Unterscheidung in die Welt setzt. Sein Einfluss
auf die Gestaltwerdung nimmt zu. Heisenbergs
Unschärferelation gründet in
eben diesem Phänomen. Je genauer die Beobachtung sein soll, um so größer ist
der Einfluss des Beobachters auf das beobachtete Phänomen. Es zeigt sich
folglich: Der Blick auf die Welt ist mit einer konstruktiven, einer künstlerischen
Tätigkeit verbunden, und Musikwissenschaft wäre die Kunst, die Welt der
Musik nach Maßgabe eines Beobachters plausibel im Modell darzustellen. Die
graduelle Funktionstüchtigkeit der eigenen Modellwelt ist es aber auch, die den
Zweifel an der eigenen – im Grunde –
Wahrsagerei überhaupt nicht aufkommen
lässt. Und ohne begründeten Zweifel besteht überhaupt kein Anlass zu einem
Perspektivwechsel, mit dessen Hilfe die Modellalternative aufscheinen könnte. Mit
anderen Worten: Die sorgfältig aufgezeigten Zusammenhänge einer Musik sind dann
Ergebnis der Erstunterscheidung – sagen wir –
autonomes Werk, die in die
weiteren Untersuchungen hineinkopiert und weiter ausdifferenziert und bestätigt
wird, wobei für die möglichen Alternativen kein Blick und Sinn mehr entwickelt
wird.
Noch einmal soll zwecks Plausibilisierung auf das Umschlagbild alte Frau/junge Frau
bezogen werden. Obwohl beispielsweise mit Blick auf dieses Bild zu wissen ist, dass das
Bild mit einem Trick arbeitet und eine Alternative bereithält, fällt es sicherlich
dem ein oder anderen schwer, sich dieser alternativen Sichtweise zu öffnen. Zu
stark ist der Eindruck des einmal Erkannten, von dem schwer zu lösen ist. Nun
entspricht die rauschende Welt nicht nur einem schlichten Umschlagbild mit zwei
Erscheinungsmöglichkeiten, sondern ist komplex, sodass die Erscheinungen in alle
möglichen Richtungen weisen können. Die Welt alternativ zu betrachten gerät zu