- 59 -Enders, Bernd / Stange-Elbe, Joachim (Hrsg.): Global Village - Global Brain - Global Music 
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eine zwischen den Polen vagabundierende Verschiebung und Notwendigkeit. Von einem Wechselspiel zwischen den Polen der Beharrung (Regel) und der Veränderung ist auszugehen, wobei die Beharrungstendenz in dem Spiel ohne Netz trotz aller Auflösungstendenzen bislang dominant gesetzt war. Dieses Wechselspiel, in dem das aufeinander Bezogene sich gegenseitig erhellt und erhält, erfährt im Netz eine Verlagerung, indem die Veränderung fortan zentral gesetzt wird. Das heißt dann konkret, dass von einem verabsolutierten Weltbild, von dem Benn im Eingangszitat spricht und das auf Konstanz/Einheit setzte und Orientierung versprach, auf den Augenblick umgestellt wird, in dem unablässig aufs Neue zu orientieren ist. Das Ergebnis ist eine zur Offenheit neigende, polyphon klingende Kunst, die im Zuge von gestalteten Musikwirklichkeiten die nicht verwirklichten mitbedenkt, ohne gleich nach dem grundlegenden Regelwerk, das zur Endgültigkeit neigt, zu fragen und sich im Augenblick wohlgefällig einrichtet. So ist es zuletzt auch nicht das feste Dach des Werkes, sondern es sind die gewerkelten haltlosen Dächer, die einem wie auch immer gegebenen Ganzen den bodenlosen Überbau bieten.

Eine Musik nunmehr, die keine Grenzen kennt, scheint haltlos und beileibe nicht festgefügt, und in der Tat – wo Interpretationen traditioneller Provenienz Grenzsteine des Möglichen setzen und doch nicht fanden – zeigen sich diese nunmehr lose gesetzt und nicht festgelegt, was aber spätestens seit Cage Musik der Stille implizit gewusst ist. Gerade Cages schweigende Musik entlarvt den Glauben an feststehende musikalische Werke, die in sich fixe Werte tragen sollen, als halluzinierte Idee. Schließlich kann Musik nach Cage potentiell alles Musik sein, was rauscht. Wer so im Konzert eine traditionelle Beethoven-Symphonie vernimmt, hat sich eigenverantwortlich entschieden, die mit Beethoven assoziierten Geräuschereignisse zur Musik zu erheben (= Sosein) und den nicht unerheblichen Rest der schweigenden Musik zum Hintergrund zu erwählen (= Sonicht). Nichts aber hat prinzipiell gezwungen, so und nicht anders zu selektieren. So wären im gleichen Konzert, was Cage gelehrt hat, andere Rauschereignisse zur musikalischen Gestalt zu erheben, die vom Stühlerücken und von Hustenereignissen belebt sein könnte (= Sosein), durchbrochen von Rauschereignissen (= Sonicht), die wieder andere mit Beethoven in Verbindung bringen möchten und auch weiterhin können. Dabei wird deutlich, dass das Sosein der Musik und das Sonicht nicht zwei einander ausschließende Seiten einer Medaille spiegeln, sondern dass das in dem einen Fall Ausgeschlossene implizit als Potentialität mitschwingt und eingeschlossen ist und es einzig eine Frage der operationsleitenden Unterscheidung ist, was der einen wie anderen Seite zugeschlagen wird. So zeigt sich am gleichen Ort zur gleichen Zeit eine Vielzahl von Welten und Musiken, was Kurt Tucholskys Worte vom Beginn nur zustimmt, der sagt: Es ist gar nicht so, es ist ganz anders. Es ist einzig eine Frage der eigenverantwortlichen Konstruktion, was als Musik schwingt und Wert hat und was nicht, und Beethoven hören zu wollen das Ergebnis einer individuell verfügten Wahlentscheidung, die durch gesellschaftlichen Konsens gelenkt ist. Mit anderen Worten: Jede Musik trägt grundsätzlich einen Mehrwert in sich: jenes, was in der Selektion nicht Beachtung fand. Es gibt kein Halt und keinen Halt. Das Netz schreibt nur fort, was ohnehin schon stets gegeben war und ist so ein Offenbarungsmedium, denn es legt offen, dass es beim Musikverstehen nicht um das Bloßlegen von isolierten geheimen Gründen geht, die sich selbst gewiss sind, sondern um das


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