- 319 -Enders, Bernd / Stange-Elbe, Joachim (Hrsg.): Global Village - Global Brain - Global Music 
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Jeder Klang besitzt sein eigenes Wesen, und man soll ihn deshalb mit einem hohen Maß an Sorgfalt und Achtung behandeln. Was gibt mir die Freiheit, die Stimme einer Grille elektronisch zu verändern, nicht aber die meiner Tochter? Wenn die Grille in meinem eigenen Garten lebte, einen Namen trüge und sich täglich mit mir unterhielte, wäre ich dann immer noch imstande, sie in meinem Studio zu verfremden? Würde ich es wollen?

Der Moment, in dem ich die Grille in der sogenannten Zona del Silencio, der Zone der Stille, – eine Wüstengegend im Nordosten Mexikos – aufnahm, hatte etwas Magisches. Der Zufall wollte es, daß eines Nachts unter klarem Sternenhimmel, als ich den allgemeinen Grillengesang in der Wüste aufnahm, eine Grille so nah an mein Mikrophon herankam, daß es wie eine klare Solostimme aus der Menge herausstand. Ich wollte also diese Stimme nicht wie ein Klangobjekt für eine neue Komposition ausnutzen, sondern versuchte einige Jahre später mit dieser Stimme eine kompositorische Klangreise in dieses Wüstenerlebnis zu schaffen, um dem Zauber der ursprünglichen Erfahrung treu zu bleiben. Ich erinnere mich an einen Moment, in dem ich zu weiteren elektroakustischen Experimenten ,Halt‘ sagen mußte: die Grille lief Gefahr in der Technologie verloren zu gehen. So ließ ich es beim einfachen Verlangsamen des Grillengesangs. In seinem Originalklang singt die Grille zu den Sternen, verlangsamt klingt es wie der Herzschlag der Wüste.

Klangbeispiel: Grille im Originalklang, nah am Mikrophon, wie sie stoppt und startet; dann erstes Stadium des verlangsamten Grillenklangs,
dann den Anfang der Komposition „Cricket Voice“ (Grillenstimme), wo man dieselbe Grille in noch verlangsamteren Formen hört.

Ein Moment Stille

Ich wandere gerne auf dem schmalen Grat zwischen wirklichen und verfremdeten Klängen. Einerseits möchte ich dem Zuhörer ermöglichen, die Klangquelle zu erkennen und damit zu lokalisieren. Andererseits bin ich ebenso von dem Prozeß des Veränderns von Klängen im Studio fasziniert, und von der Möglichkeit, ihre eigentliche Herkunft unkenntlich zu machen. Dieses Verfahren gestattet mir als Komponistin, die musikalischen und akustischen Möglichkeiten eines Klangs voll auszuschöpfen.

Doch abstrahiere ich einen Originalklang dabei nur bis zu einem gewissen Grad, und bin nicht daran interessiert, seine ursprüngliche Reinheit zu verschleiern. Ich verwandle ihn, um seine ursprünglichen Konturen und Bedeutung hervorzuheben, ähnlich etwa dem Verfahren mit dem ein Karikaturist die Konturen eines menschlichen Gesichts herausarbeitet und damit unsere Wahrnehmung schärft.

Ein Moment Stille

Als ich an meiner Komposition Beneath the Foerst Floor (Unter dem Waldboden) arbeitete, wollte ich eine klanglich-musikalische Atmosphäre schaffen, die den Zuhörer in den Urwald der pazifischen Westküste Kanadas versetzt – ein Regenwald mit riesigen, uralten Bäumen. Ich hörte da diesen Raben:

Klangbeispiel: Ruf eines Rabens (im Original)
als er circa 4 Meter über dem Mikrophon herfliegt.


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