- 242 -Enders, Bernd / Stange-Elbe, Joachim (Hrsg.): Global Village - Global Brain - Global Music 
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Dies ist das Resultat einer Haltung, wo die Kategorien „0-1“, „falsch“ und „richtig“ sich verselbstständigt haben. Oberflächlich betrachtet und digital gewertet ist das Ergebnis total falsch, denn der Schüler hat keine einzige Taste richtig getroffen.

Daß die Leistung des Schülers aber nach viel tieferen musikalischen und ästhetischen Kriterien möglicherweise sinnvoll war, widerspricht der Botschaft des digitalen Mediums, in diesem Fall der des Notentexts, so daß es von der Umwelt, also seinem Lehrer und dem Vater, die sich an diesem Medium orientieren, nicht wahrgenommen oder zumindest nicht anerkannt wird. Die digitale Verschriftlichung provoziert also auch hier eine geistige Digitalisierung und beeinflußt das Verhältnis zur Musik, ja kann dieses im Extremfall geradezu zerstören.

Bei den geschilderten Beispielen handelt es sich zwar um Extremfälle, die verdeutlichte Problematik ist aber durchaus typisch für Merkmale und Schwierigkeiten der abendländischen Musikkultur und Musikerziehung. Heinrich Jacoby stellte 1921 den ursächlichen Zusammenhang her zwischen grundsätzlichen Problemen der Musikpädagogik und der gängigen Methode ihrer Vermittlung:

„Der Musikunterricht, wie er heute meistens verläuft, ist geradezu ein Schulbeispiel dafür, wie Erziehung nicht sein soll. Wenn sich die Richtigkeit eines Weges daran erkennen läßt, daß er zum Ziel führt, so zeigen die unzulänglichen Leistungen der meisten Dilettanten, [...] vor allem aber das halbgebildete Musikerproletariat, dem unsere Konservatorien alljährlich neuen Zustrom bringen, deutlicher als alle theoretischen Überlegungen und Untersuchungen, daß der bisherige Weg nicht einmal für besonders ,Musikalische‘ der richtige sein kann.

Am greifbarsten treten seine Mängel beim Instrumentalunterricht zutage und da wieder am deutlichsten bei dem unglücklicherweise am weitesten verbreiteten Klavierspiel: Mit seltenen rühmlichen Ausnahmen beginnt man den Unterricht mit der Benennung der Noten.“12

12
Heinrich Jacoby: Jenseits von „Musikalisch“ und „Unmusikalisch“, Hamburg 1995, S. 16.

Aus einer deskriptiven Notation, die ursprünglich dazu geschaffen war, flüchtige musikalische Gedanken festzuhalten, sei nach Jacoby eine präskriptive Notation geworden, seien Noten geworden, die

„[...] die Musik diktieren – uns Grundlage und Vorbild für alles Musizieren liefern. [...] Vom ursprünglich spontanen musikalischen Ausdruck ist schließlich nichts übrig geblieben als die Gewohnheit, sobald man musizieren will, Musik nach diesen Noten zu ,machen‘, d. h. Noten, die irgendein anderer zusammengesetzt – komponiert – hat, meist noch ein anderer ,herausgegeben‘ und interpretiert hat, möglichst genau nach Vorschrift zum Klingen zu bringen.“13

13
Jacoby a.a.O., S. 41f.

Heinrich Jacoby beobachtete dabei einen scheinbar paradoxen Zusammenhang: gerade unter den scheinbar „Unmusikalischen“ glaubt er wider Erwarten einen besonders hohen Anteil von Menschen ausmachen zu können, die eine ausgeprägte emotionale Affinität zur Musik haben:


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